# taz.de -- Schnittblitze mit ultrakrasser Energie | |
> 1969 initiierte Hans-Joachim Hespos eine bis heute laufende Konzertreihe | |
> für Neue Musik in Delmenhorst. Dort zeigt nun eine Ausstellung eine | |
> Werkschau des Komponisten | |
Bild: Wie soll man das bloß umsetzen? Hespos‘ Partituren sind untypisch, fre… | |
Von Radek Krolczyk | |
Für Neue Musik muss diese Gegend in den Sechzigerjahren gar nicht mal so | |
schlecht gewesen sein – diese provinzielle Gegend im Nordwesten, zwischen | |
Oldenburg und Bremen. So etwas lässt sich in der Rückschau natürlich immer | |
gut behaupten, wenn man nur ein paar Punkte zusammenbringt. In der | |
Rückschau ergibt so eine Handvoll Punkte schnell eine große Dichte. Man | |
spricht dann von Struktur, von Biotop. | |
Im Falle der Neuen Musik wären das vielleicht ein paar wichtige | |
Konzertdaten, ein paar Namen heute bedeutender Musiker und Komponisten, | |
vielleicht noch das Gründungsdatum einer Institution. Sehr wahrscheinlich | |
war für den Alltag in der nordwestlichen Provinz der Sechzigerjahre aber | |
eher die Ödnis und die bleierne Schwere des Post-Nazismus prägend. Jene | |
einzelnen leuchtenden Punkte verdienen umso mehr einer eingehenden | |
Würdigung. | |
## Minimal-brachiale Stücke | |
Eine bedeutende Figur der Neuen Musik der Sechzigerjahre ist der Komponist | |
Hans-Joachim Hespos, dem die Städtische Galerie Delmenhorst aktuell eine | |
ausführliche Werkschau widmet. Durch seine eigenwilligen, | |
minimal-brachialen Stücke wurde er bereits in den späten Sechzigerjahren | |
international bekannt. Er komponierte für Solisten, Orchester und Chöre, | |
schrieb Kammermusik und Opern. 1977 vertonte er Oskar Schlemmers berühmtes | |
Bauhaus-Ballett „Triadisches Ballett“ neu, 2002 erregt er mit seiner | |
Antioper „iOPAL“ in Hannover großes Aufsehen. | |
Den norddeutschen Raum verließ Hespos dabei selten: 1938 wurde er in Emden | |
geboren, nach dem Studium der Pädagogik in Oldenburg arbeitete er bis 1984 | |
als Hauptschullehrer in Delmenhorst, heute lebt er in Ganderkersee. In den | |
frühen Siebzigerjahren immerhin war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. | |
Die Städtische Galerie Delmenhorst ist ebenfalls ein leuchtender Punkt der | |
Neuen Musik im Nordwesten. 1969 fand dort ein Konzert des Komponisten | |
Giuseppe Giorgio Englert statt, eines frühen Vertreters experimenteller, | |
elektronischer Musik. Die 1905 erbaute Villa, in der heute die Städtische | |
Galerie untergebracht ist, war damals noch Wohnhaus und Praxis des Arztes | |
Hermann Coburg. Als Ausstellungshaus wurde es erst 1974 für die | |
Öffentlichkeit geöffnet. | |
Veranstalter des Konzertabends im Jahr 1969 war Hans-Joachim Hespos. | |
Anwesend waren 21 geladene Gäste, der Schweizer Komponist Giuseppe | |
Giorgio Englert spielte eine Vierspurkomposition für Tonbänder. Der Abend | |
war der Erste einer Reihe, die Hespos bis heute jährlich veranstaltet und | |
die nun mit der Ausstellung ihr 50-jähriges Jubiläum feiert. | |
## Anarchische Manier | |
Hespos gab der Reihe den in anarchischer Manier klein geschriebenen Titel | |
„11.11 neue musik in delmenhorst“. Damit war mindestens eine zweite | |
regelmäßige Konzertreihe in der Region begründet. Denn schon seit 1958 | |
veranstaltete der Komponist und Musikprogrammdirektor bei Radio Bremen, | |
Hans Otte, das Festival Musica Nova, an dem international bedeutende | |
Vertreter experimenteller Musik, wie Karlheinz Stockhausen, La Monte Young, | |
György Ligeti oder John Cage teilnahmen. Die postnazistische Realität holte | |
Cage allerdings bereits 1963 bei einem Auftritt im Oldenburger Schlosssaal | |
ein, als ein Protestzug gegen seinen „entarteten“ Sound durch die Stadt | |
zog. | |
In der Villa, die heute die Städtische Galerie Delmenhorst beherbergt, | |
bewegt man sich durch einen musikalischen Parcours, in dem die Stücke von | |
Raum zu Raum wechseln und in dem man die verschiedenen Facetten des | |
musikalischen Schaffens von Hespos erfahren kann. Im lichtdurchfluteten | |
Erker im ersten Stockwerk etwa ist „Point“ zu hören, ein kurzes wie | |
heftiges Instrumentalstück von einer Minute und 37 Sekunden aus dem Jahr | |
1971: Bassklarinette, Posaune, Violoncello und Piano definieren gemeinsam | |
einen Punkt. | |
Hespos interessiert sich dabei nicht für die Modellhaftigkeit einer | |
einfachen Formation wie des Punkts. Sein Augenmerk liegt auf dessen | |
Rändern. Denn tatsächlich muss so ein Punkt, so exakt er auch gesetzt sein | |
mag, in der mikroskopischen Ansicht an seinen Rändern ausfransen. Von | |
diesen Rändern handelt das krachige Stück. | |
Beim Rundgang durch die Ausstellung merkt man schnell, dass es Hespos nicht | |
darum geht, saubere Klänge zu erzeugen und aus ihnen Melodien zu bauen. Die | |
Stücke wirken oft archaisch, von Stimme und Schlagwerk getragen, den | |
möglicherweise einfachsten und ursprünglichsten Mitteln der Klangerzeugung. | |
Hespos kritisiert den reinen Klang als ein Ideal, der wenig zu erzählen | |
vermag. Den schmutzigen Klang hingegen bezeichnet er als reich. | |
So sind seine Stücke geprägt von unsauberen Tönen. Posaunen oder Flöten | |
etwa werden nur mit halber Kraft geblasen. Der Klang würde auf diese Weise | |
lebendig, erzählt Hespos immer wieder in Interviews. Aber nicht nur Musik | |
erklingt in der Delmenhorster Ausstellung, auch zahlreiche Partituren von | |
Hespos sind zu sehen. Ihre untypische, freie und ausufernde Gestalt fällt | |
auf. Auch für Nicht-Musiker drängt sich die Frage nach ihrer Umsetzbarkeit | |
sofort auf. | |
## Freie Form | |
Diese freie Form hat natürlich mit Hespos‘ Verständnis von Musik überhaupt | |
zu tun. Es fehlt eine zeitliche und rhythmische Ordnung. Sie muss von den | |
Musikern selbst im Zusammenspiel entwickelt werden. Dazu sind die | |
Partituren von seltsamen Anweisungen bestimmt. Das nur zwei bis fünf | |
Sekunden dauernde Stück „Stitch“ etwa von 2002. Geschrieben hatte Hespos es | |
für „elektrifiziertes Akkordeon, E-Bass (fretless), hybride elektrische | |
Wandler und achtkanalige Abstrahlung“. Die Partitur verlangt: | |
„schnittblitz, schmerzKreischender zeitschlag und aufreißender schlupf von | |
ultrakrasser energie“. | |
„hespos. das auge im ohr“: bis 5. 1. 20, Delmenhorst, Städtische Galerie | |
4 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Radek Krolczyk | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |