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# taz.de -- EU-Türkei-Beziehungen: „Europa war und ist unentschieden“
> Der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky vermisst eine klare Haltung der
> EU gegenüber der türkischen Offensive in Nordsyrien.
Bild: Sergey Lagodinsky (in der Mitte) bei einer Sitzung der Türkei-Delegation…
Sergey Lagodinsky wurde im Mai 2019 als grüner Abgeordneter ins
Europaparlament gewählt. Der Berliner Jurist trat 2011 aus der SPD aus, als
die Partei Thilo Sarrazin nicht ausschließen wollte. Er ist Leiter der
Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei und
stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses.
Taz gazete: Herr Lagodinsky, wenn Sie das Verhältnis zwischen der
Europäischen Union und der Türkei in zwei Worten beschreiben müssten,
welche wären das?
Sergey Lagodinsky: Unstrategische Partnerschaft. Wir wissen, dass wir
Partner sind, aber wir wissen nicht, was das strategische Ziel ist. Soll
das jetzt eine Mitgliedschaft werden oder nicht? Das weiß weder die
türkische Gesellschaft noch die türkische Politik. Ansonsten wäre es nicht
zum Einmarsch in Nordsyrien gekommen, der ganz klar ein Affront gegenüber
der europäischen Art ist, Konfliktlösungen anzustreben. Insofern ist die
Situation von beiden Seiten verschuldet, auch von der europäischen Seite.
Sie haben letzte Woche im EU-Parlament gesagt, Europa habe dabei versagt,
Verantwortung für die Situation in Nordsyrien zu übernehmen.
Wir haben es nicht geschafft, eine gemeinsame außenpolitische
Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Da haben wir einfach versagt. Wir haben
weder Zuckerbrot noch Peitsche. Wir konnten der türkischen Gesellschaft
weder eine positive Perspektive anbieten, noch werden wir wirklich gehört,
wenn wir sagen: So geht das nicht.
Fing das nicht schon beim Umgang mit der türkischen Zivilgesellschaft in
den letzten Jahren an?
Ich glaube schon, dass wir gerade in Deutschland an die aktive
Zivilgesellschaft in der Türkei positive Signale gesendet haben. Natürlich
kann man sich darüber streiten, ob es genug finanzielle Unterstützung gab
oder rechtliche Hilfe für Menschen, die hierher gekommen sind. Aber
grundsätzlich ist es für uns viel einfacher, mit dieser offenen,
demokratieorientierten Zivilgesellschaft umzugehen, weil wir uns in ihr
wiedererkennen. Wir tun uns schwer mit Diktatoren, oder Autoritären, wie
Herrn Erdoğan oder vielen anderen.
Die dann einfach Fakten schaffen, die für viele Menschen katastrophal sind.
Aus meiner Sicht ist das ein Weckruf für uns alle, zu sagen: Bei der
nächsten Krise, beim nächsten Konflikt müssen wir uns anders positionieren
als Europäerinnen und Europäer. Wir müssen handlungsfähiger werden. Es kann
nicht sein, dass wir, wie in der Situation mit Ungarn jetzt, eine Regierung
haben, die aufgrund dieser animalischen Furcht vor Migration der Regierung
Erdoğan den roten Teppich ausrollen will, egal, was die machen. Wir haben
eine lange Verzögerungstaktik der ungarischen Regierung erlebt und danach
zahnlose Ratsschlussfolgerungen wegen dieser Verzögerung. Wir müssen die
Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen abschaffen.
Wie kommt man dahin?
Beispielsweise durch eine Vertragsänderung. Wir sehen es in der EU
grundsätzlich als Problem an, dass wir bei vielen wichtigen Entscheidungen
Einstimmigkeit haben, weil die Union damals noch als Völkerrechtsvertrag
angesehen wurde. Aber das ist ja kein Völkerrecht mehr, sondern
mittlerweile europäisches Recht.
Auch im Inneren der EU setzen sich allmählich postdemokratische Tendenzen
in den verschiedenen Institutionen durch.
Die autoritären Modelle und Züge, die sind ja nicht nur irgendwo draußen.
Es ist hochsymbolisch, dass wir ausgerechnet mit Ungarn jemanden haben, der
sich mit Ankara verbrüdert. Wenn von der Leyen jetzt nicht umsteuert und
die Verantwortung für die EU-Erweiterung den Ungarn nicht wegnimmt, dann
haben wir ein großes Problem. Wir erleben eine grundsätzliche globale,
ideologische Konfrontation, auch wenn es um Moskau geht oder um andere
Länder wie Brasilien. Einerseits haben wir die pluralistische, offene
Gesellschaft einer liberalen Demokratie und andererseits Herrscher, die
sich auf traditionalistische Mehrheiten stützen und kraft dieser
Legitimation durch Masse bestimmte Sachen einfach durchboxen. Dann
entscheiden auch außenpolitisch diejenigen, die am meisten Soldaten vor Ort
haben und am meisten Muskeln produzieren können.
Aber wäre die Türkei in Nordsyrien einmarschiert, wenn dort deutsche und
französische Soldaten stationiert gewesen wären? Brauchen wir nicht
vielleicht liberale Falken?
Genauso wie bezüglich der türkischen Innenpolitik finde ich auch hier, dass
wir eine Handlungsfähigkeit mit Haltung brauchen. Aber das darf natürlich
nicht in so eine neokonservative Außenpolitik abdriften, wie die USA sie
verfolgt haben. Die Konsequenzen sehen wir im ganzen Nahen Osten, und der
Konflikt in Syrien ist ein Teil davon. Ja, Europa wird in diesem globalen
Umfeld nicht überleben können, wenn wir nicht an unserer Handlungsfähigkeit
arbeiten. Aber das bedeutet nicht, dass wir nur auf Waffen setzen. Wie
stellen wir uns als Europäer vor, als handlungsfähiger Akteur? Es gibt
nicht mal ein Bild, das uns alle vereint. Wollen wir militärische Kraft
zeigen oder eine abgestimmte Handelspolitik und Diplomatie? Ob Falken oder
nicht, ist eine nachgelagerte Frage. Wir werden in jeder Situation schauen
müssen: Wo brauchen wir denn Militäranwendung und wo eine
friedensorientierte Politik, die auf Konfliktprävention setzt.
Und in diesem konkreten Fall?
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Armee gebraucht hätte. Wir hätten klar
und deutlich sagen müssen: Bis hierhin und nicht weiter, sonst werden
gezielte Sanktionen eingeführt. Es hätten europaweit auch die bereits
genehmigten Rüstungsexporte zurückgenommen werden müssen. Wir haben ja
Russland gegenüber ein Instrumentarium ausprobiert und ein bisschen
Erfahrungswerte, was funktioniert und was nicht funktioniert.
Dual-Use-Technologien kann man reglementieren, bestimmte Oligarchen und
Entscheidungsträger kann man bestrafen – etwa durch Einreiseverbote und die
Einfrierung von Konten wie beim Magnitsky-Gesetz in den USA. Bei diesen
gezielten Sanktionen mangelt es der EU im Fall Türkei an Willen.
Was tun, wenn es an Willen fehlt?
Versuchen, sich selbst und genug Akteure zu überzeugen. Europa soll sich
auch nicht kleiner machen, als es ist. Wir haben als wichtigste
Handelspartner der Türkei viele Hebel. Wir brauchen eine Haltung, damit die
Gegenseite uns auch ernst nimmt. Und zu dieser Haltung gehört
Glaubwürdigkeit.
In Erdoğans Sprache übersetzt heißt das: Europa ist heuchlerisch!
Ich glaube nicht, dass wir hier von Heuchelei sprechen. Unfähigkeit und
Heuchelei sind zwei verschiedene Sachen. Europa war und ist unentschieden.
Aber bei allem Respekt, es kann nicht sein, dass ein anderes
Staatsoberhaupt so über einen Außenminister spricht wie Herr Erdoğan.
Aber statt abgestimmter Sanktionen gibt es eine zahnlose Resolution.
Sanktionen werfen eine moralische Frage und eine Effektivitätsfrage auf:
Wollen wir denn die Bevölkerung des Landes bestrafen? Wer sind diejenigen,
auf die wir Druck ausüben wollen? Es gibt Leute, die sagen: natürlich die
Mehrheiten, die diese Regierungen wählen. Ich bin nicht der Meinung, dass
Bürger*innen die primären Adressat*innen von Sanktionen sind und wir sie
umerziehen sollen. Das finde ich etwas kolonialistisch. Deswegen finde ich
gezielte und durchgerechnete Sanktionen wichtiger. Dafür sehe ich keine
Hindernisse außer dem fehlenden Willen. Haben wir doch gegenüber anderen
Ländern auch gemacht.
Im EU-Parlament haben Sie gesagt, wir müssen die Türkei zähmen. Wie soll
das gelingen, wenn die im Prinzip sagt: Du bist ein Lauch, ich nehme dich
nicht ernst?
Wir können jetzt nicht plötzlich irgendwie eine außenpolitische
Handlungsfähigkeit projizieren, die wir gar nicht aufgebaut haben. Aber wir
können die Hebel, die uns zustehen, zumindest androhen. Wir schaffen es ja
nicht einmal, gemeinsam etwas anzudrohen. Und wenn es die EU nicht macht,
dann muss es die Bundesrepublik machen, ganz ehrlich. Dann müssen wir auch
die Hermesbürgschaften und bereits genehmigten Rüstungsexporte
zurücknehmen.
Oder gar den umstrittenen Flüchtlingsdeal?
Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als jedes europäische
Land. Wir können nicht sagen, nur weil die Regierung in Ankara uns nicht
passt, streichen wir die Gelder. Natürlich darf das europäische Geld nicht
benutzt werden, um Menschen in diese Sicherheitszonen zu transferieren. Das
ist eine humanitäre, aber auch eine demografische Frage. Außerdem finde ich
es nicht tragbar, wenn Leute zurück in die Türkei geschickt werden, jetzt
wo wir wissen, dass geplant ist, sie weiter nach Syrien zurückzuschicken.
Das bedeutet ja, dass die Türkei kein sicheres Drittland mehr ist.
Die Opposition in der Türkei kritisiert die mangelnde Transparenz. Es gibt
für eine parlamentarische Partei in der Türkei keine Möglichkeiten, darüber
Informationen zu bekommen, wo die EU-Gelder hinfließen.
Dem kann man nachgehen. Das muss überprüfbar sein, zum Beispiel von unserem
Haushaltskontrollausschuss. Die EU-Kommission liefert außerdem regelmäßige
Berichte über die Verausgabung der Gelder und der Europäische Rechnungshof
kontrolliert diese Ausgaben ebenso und veröffentlicht darüber Berichte. Es
wäre nicht Sinn der Sache, Geld in irgendjemandes Tasche zu pumpen. Wenn
tatsächlich irgendwelche Einrichtungen in Nordsyrien gebaut werden, müssen
wir sicherstellen, dass das nicht mit unseren Geldern geschieht. Sonst
macht es keinen Sinn, das Geld zu überweisen.
Gleichzeitig ist unklar, was mit den gefangenen IS-Kämpfer*innen aus Europa
geschehen wird.
Man kann sich Gedanken über ein internationales Tribunal machen. Aber bis
dahin haben wir keine andere Wahl, als unsere Bürgerinnen und Bürger
zurückzuholen. Mir ist nicht klar, inwiefern wir als Rechtsstaat eigenen
Bürgern eine Wiedereinreise verweigern und sie nicht vor unsere Gerichte
stellen können. Wir haben dazu beigetragen, dass sie sich radikalisierten,
indem wir ein Wachstumsfeld dafür geschaffen haben. Das sind unsere
Produkte. Das ist ein Teil von uns. Und auch die hässlichere Version von
uns sind wir. Wir haben eigene homegrown terrorists, die wir jahrzehntelang
ignoriert haben, wie wir aus dem NSU-Verfahren wissen. Und damit müssen wir
zurechtkommen, auch zur eigenen Verantwortung stehen. Wir haben diese
Menschen verloren, also müssen wir diese Menschen auch zur Verantwortung
ziehen.
31 Oct 2019
## AUTOREN
Ali Çelikkan
Oliver Kontny
## TAGS
taz.gazete
Politik
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