# taz.de -- „Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken“ | |
> Adorno hatte als öffentlicher Intellektueller großen Einfluss auf | |
> Debatten. Einiges ist noch immer aktuell – Stichwort Rechtsradikalismus | |
> oder Städtebau | |
Bild: Adorno-Denkmal, Frankfurt. Besser, man pflegt das Weiterdenken | |
Von Gerhard Schweppenhäuser | |
Adorno-Einführungen haben Konkurrenz bekommen, denn jetzt gibt es eine, die | |
vom Meister selbst stammt. Michael Schwarz hat aus dem Nachlass 20 Vorträge | |
rekonstruiert, die Adorno nach der Rückkehr aus dem Exil bis zur Zeit der | |
Student*innenbewegung in freier Rede hielt. | |
Als Grundlage der Edition, die sorgfältig und hilfreich kommentiert ist, | |
dienten Tonaufzeichnungen und schriftliche Überlieferungen. Außerdem hat | |
Schwarz die Notizen und Materialien herangezogen, die Adorno zur | |
Vorbereitung und während der Präsentationen benutzt hat. Soziologie, Musik, | |
Literatur, Bildung und Erziehung: Das sind die Gebiete, auf denen Adorno | |
sich dort bewegt. | |
## Mai 1968 | |
Wo war Adorno, als der Mai 68 zu Ende ging und die Frankfurter Polizei eine | |
Razzia im SDS-Büro veranstaltete? Nun, er erläuterte abends in der | |
Frankfurter Musikhochschule eine Schönberg-Aufführung, an deren | |
Einstudierung er mitgewirkt hatte. | |
Das war aber keine Flucht in die ästhetische Komfortzone. Adorno ergründete | |
in der Musikhochschule die Schwierigkeiten des Konzepts „Die Phantasie an | |
die Macht“, das im Pariser Mai auf der Tagesordnung stand. Er zeigte, wie | |
die radikale Moderne künstliche musikalische Paradiese aufbaut: eine | |
„hermetisch verschlossene, reine Phantasielandschaft, einen imaginären | |
Raum“, in dem dann aber „das Gefühl eines in sich Kreisenden, | |
Geschlossenen, Gefangenen“ gestaltet wird. | |
Bis zu seinem Tod im August 1969 hat Adorno mehr als 300 öffentliche | |
Vorträge im ganzen Land gehalten. Dazu kamen etwa 300 Auftritte im Radio. | |
„Man konnte Adorno also fast jede Woche irgendwo hören“, resümierte Micha… | |
Schwarz 2011 in einem Aufsatz über „Adorno am Mikrophon“. | |
## Amerika – reale Humanität | |
Ironischerweise durchmisst gerade der Vortrag, den Adorno am häufigsten | |
gehalten hat, ein Gebiet, auf dem er bis heute missverstanden wird. | |
Zwischen 1956 und 1966 ging er neunzehnmal der rhetorischen Frage nach: | |
„Sind amerikanische und deutsche Kultur vergleichbar?“ Seine These: In | |
einer entwickelten bürgerlichen Tauschgesellschaft verschwinden zwar | |
Momente der kulturellen Tradition und der Avantgarde, die Impulse für die | |
Kritik jener Gesellschaft geben können. Dafür entsteht aber eine | |
demokratische Alltagskultur, in der reale Humanität verwirklicht wird wie | |
nirgendwo sonst. | |
Wer diesen Vortrag (unter dem Titel „Kultur und Culture“) heute liest, | |
findet frappante Parallelen zum Ansatz der angelsächsischen Cultural | |
Studies, die sich in den 1960ern formierten (ohne von Adorno bemerkt zu | |
werden). Man erkennt, dass Adornos Kritik der Kulturindustrie keine | |
Kulturkritik war, schon gar keine konservative, sondern | |
Gesellschaftskritik. Kritik einer Lebensform, die, wie Fred Jameson | |
zusammengefasst hat, durch „einen Zweig der miteinander verquickten | |
Monopole des Spätkapitalismus“ dominiert wird, der „Geld aus dem schlägt, | |
was für gewöhnlich Kultur genannt wurde“. Von dort aus betonte Adorno immer | |
wieder, wie obsolet bildungsbürgerlicher Kulturhochmut ist. | |
Und er wollte seinem Publikum kulturelle Vorlieben madig machen, die er für | |
rückständig hielt: „die sogenannte Barockmusik“, den Neoklassizismus oder | |
den Jazz („Ich finde ihn nur langweilig“). Wer sich mit der Materie | |
auskennt, wird solche Urteile problematisch finden; trotzdem wirken sie | |
erfrischend – im heutigen Klima, wo man immerzu Angst hat, jemandem auf die | |
Zehen zu treten. | |
Adorno war gerade erst aus dem Exil zurückgekehrt, als er 1949 beim | |
Kolloquium für Städtebau an der TH Darmstadt über „Städtebau und | |
Gesellschaftsordnung“ sprach. Er erläuterte, warum unsere spontane | |
ästhetische Wahrnehmung urbaner Schönheit und Hässlichkeit oberflächlich | |
bleibt und wieso es falsch sei, zerstörte Städte historistisch zu | |
rekonstruieren. Indem er die Entstehung historischer Stadtbilder auf die | |
sozialen Produktionsverhältnisse ihrer Zeit zurückführte, skizzierte er, | |
dass Stadtsoziologie und Ästhetik als Ideologiekritik zu verstehen sind. | |
## Ohne Hochmut | |
Adorno hat das neomarxistische Konzept der kritischen Theorie immer wieder | |
auf zugängliche Art und Weise vorgestellt. Hört man im Vergleich die | |
hochmütig-abweisende Diktion Heideggers in Radiodokumenten aus jener | |
Zeit, wird spürbar, wie wichtig es Adorno war, verstanden zu werden. Er | |
wollte aufklären. Mit seiner Medienpräsenz stellte er alle anderen | |
bekannten Denker jener Zeit in den Schatten. | |
Dass es ihm nach der Rückkehr aus der Emigration aber um die | |
„intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ gegangen sei, wie der | |
Soziologe Friedrich H. Tenbruck behauptete, ist ein schiefes Bild. Adorno | |
betonte immer wieder seine Kritik an den Geburtsfehlern des Bonner | |
Projekts, in dem es, aufgrund personeller und struktureller Kontinuitäten, | |
nicht zum radikalen Bruch mit dem autoritären Vorgängerstaat kommen konnte. | |
Die soziale Herrschaftsform hatte sich geändert, aber nicht die | |
Eigentumsverhältnisse: die profitorientierte Verfügung über Arbeit und | |
Dienstleistungen. Die demokratische Herrschaft, die die autoritäre abgelöst | |
hatte, sei jederzeit in Gefahr, ihre neuen Freiheitsspielräume wieder | |
preiszugeben. Solange Menschen Objekte wirtschaftlicher und politischer | |
Verwaltung sind, konnte es für Adorno keine wahrhafte Freiheit geben, dafür | |
müssten sie Subjekte ihrer gesellschaftlichen Praxis werden. | |
Adorno sah die Gefahr nicht von außen kommen. Das „Potential des | |
Rechtsradikalismus“ liege darin, „daß die gesellschaftlichen | |
Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen“. Dafür sei zum | |
einen „die nach wie vor herrschende Konzentrationstendenz des Kapitals“ | |
verantwortlich, sagte er 1967 in Wien. Zum andern, das hatte er 1960 in | |
Ingelheim ausgeführt, der „aggressive Nationalismus“. Und vor allem die | |
psychische Disposition des „autoritätsgebunden Charakters“, die es | |
ermöglicht, dass „Menschen sich für irrationale Ziele einspannen lassen, | |
die sie selbst zerstören“. | |
Es sind nicht nur autoritäre Gesellschaften, die autoritäre Charaktere | |
hervorbringen. Auch in den liberalen westlichen Demokratien sei „die | |
Einrichtung unserer ökonomischen Verhältnisse autoritär“. So ließen sich | |
Selbstbestimmung und Freiheit seelisch und gesellschaftlich nicht | |
verwirklichen. | |
Adornos Sozialpsychologie des autoritären Charakters dürfte ein Grund des | |
analytischen Vorsprungs sein, den die kritische Theorie bis heute vor der | |
Systemtheorie hat. Deren Vertreter konnten nach den jüngsten Wahlerfolgen | |
der AfD in Sachsen und Brandenburg zwar darauf hinweisen, dass die Partei | |
keine praktikablen Alternativen zur herkömmlichen Politik anbietet, dass | |
sie nicht einmal ein politisches Programm hat. Aber sie konnten nicht | |
erklären, wieso die Leute die Partei dennoch wählen. | |
Wenn es nach Adorno ging, sollten Kultur und Bildung Räume des geistigen | |
Widerstands werden: gegen Konformismus, gegen das Sich-Abfinden mit den | |
bestehenden Herrschaftsverhältnissen. Treffender als die These der | |
„intellektuellen Gründung“ der BRD ist daher die Darstellung des Soziologen | |
Alex Demirović. Er hat die Geschichte der Frankfurter Schule seit 1949 als | |
Projekt beschrieben, bei dem „nonkonformistische Intellektuelle“ | |
ausgebildet werden sollten. | |
Unter den kommunikativen Vorträgen aus Adornos Nachlass ist übrigens | |
keiner, der sich direkt mit philosophischen Themen und Problemstellungen | |
beschäftigt. Adorno-Einführungen sind also vielleicht doch nicht | |
überflüssig geworden. | |
2 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Schweppenhäuser | |
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