# taz.de -- Die Wahrheit: Mit dem Darm werden alle warm | |
> Wir leben in sehr dunklen Zeiten: Wie man in unserem braunen Zeitalter | |
> Innereien vorzeigt und aus Scheiße Gold macht. | |
Bild: Sich fühlen wie Jona, der von einem Wal verschluckt wurde: Frau in begeh… | |
Seit Jahren kündigte es sich mehr oder minder auffällig an: das | |
Proktologische Zeitalter. Da stand, einige Jahre ist es her, ein aus | |
Fiberglas geformtes Darmcafé vor der Art Basel, in das man mit | |
koloskopischem Blick vordrang, um Espresso zu bestellen. Dann die | |
Fußball-Nationalmannschaft 2014, eingekleidet in dieses spezielle | |
Rostbraun, auf das der Modeausstatter Hugo Boss nach dem Verzehr von Roten | |
Beten gekommen ist und das über Jahre die Fantasien der Raumausstatter | |
dominierte, gefolgt von einem enervierenden Durchfallgelb, ins Grünliche | |
changierend und auf den künftigen Hype hindeutend. Alles erste Vorboten | |
dafür, dass unsere Ausscheidungen gesellschaftsfähig werden würden. | |
Die braunen Ausflüsse, über die früher pikiert geschwiegen und die | |
verschämt verdrückt wurden, fluten nun ungehemmt Bücher, Fernsehsender und | |
Privatgespräche. Munter wird auf Partys mit Menschen ab 45 über die | |
Vorsorgeuntersuchung beim Urologen geplaudert und dann die anschließende | |
„große Hafenrundfahrt“ beim Gastroenterologen genüsslich in allen Details | |
geschildert, während man sich die Hackfleischbällchen in den Mund schiebt. | |
Selbst das Satiremagazin Titanic macht in seiner neuesten Ausgabe mit dem | |
„unterschätzten Superorgan“ auf. | |
Woher rührt diese neue Kaltblütigkeit im Umgang mit der dunklen Materie? | |
Verdankt sie sich einfach nur dem modernen Hang, aber auch jeden | |
schicklichen Damm einzureißen, um progressiv dazustehen? Es steckt | |
eindeutig mehr dahinter. Ein Mentalitätswandel, ganz neue Erkenntnisse und | |
eine Rückbesinnung darauf, dass wir nicht nur von unserer Umwelt, sondern | |
auch von unserer Innenwelt abhängig sind. | |
Wurde in früheren Zeiten über den Aderlass, die Einnahme des | |
Schwefelwassers in Karlsbad oder die reinigende Wirkung eines | |
Gruppenorgasmus im Poona-Ashram geschwatzt, diskutiert man heute leutselig | |
Einläufe und Bauchgehirn. Wir leben im braunen Zeitalter. Und das betrifft | |
nicht bloß die Politik. | |
## Austausch in Tupperdosen | |
Nicht nur rechte Ärsche, auch der Darm und sein Inhalt gelten neuerdings | |
als charmant. Was früher Bähbäh war, wird heutzutage in Fernsehsendungen | |
gezeigt und zwischen Nachbarn in Tupperdosen ausgetauscht. Langsam wird | |
klar, das, was in die Schüssel plumpst, ist nicht das, wofür man es | |
jahrhundertelang hielt: ein Haufen Scheiße. In Wirklichkeit handelt es sich | |
um ein kostbares Gut. Genaugenommen geht es um das Gold der Zukunft. Wer | |
jetzt handelt und in Scheiße investiert, wird sich einen goldenen Anus | |
verdienen. | |
Schon macht eine Clique umtriebiger Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen | |
ein Riesengeschäft mit Flohsamenschalen, Darmsanierungen und Probiotika. | |
Denn die Därme der westlichen Zivilisationsärsche sind im Eimer | |
beziehungsweise ihr Biom, ihre Darmflora. Der durchschnittliche Europäer | |
oder Amerikaner wird per Kaiserschnitt geboren, kriegt beim ersten | |
Hüsterchen eine ordentliche Portion Antibiotikum verabreicht, ernährt sich | |
danach von Nutella und Chicken Wings, putzt und wienert Klo und Waschbecken | |
fortwährend mit Domestos aus Angst vor Keimen, pupst Tag und Nacht vor | |
Fernseher und Computer Löcher in den Sessel und wundert sich, dass er dick | |
wird und recht schnell droht abzusterben. | |
Kaum haben wir entdeckt, dass wir in Symbiose mit Bakterien leben und | |
eigentlich ein Anhängsel der Billionen von Darmbakterien, werden wir mit | |
der Tatsache konfrontiert, dass das Artensterben nicht nur in deutschen | |
Wäldern und im Dschungel des Amazonas stattfindet. Es betrifft auch unsere | |
Darmflora. Knapp ein Viertel aller westlichen Menschen weist ein | |
reduziertes, dezimiertes Mikrobiom auf. Wir leben also nicht nur in einer | |
verarmten Welt, wir haben auch eine in uns. | |
## Ursprüngliches vermarktbar machen | |
Und wie immer, wenn echte Probleme in den Industrienationen auftauchen, | |
schielt man auf die Schätze, die bei den Naturvölkern zu holen sind und | |
überlegt, wie man das Ursprüngliche komplizierter, teurer, | |
wissenschaftlicher und das heißt: vermarktbar macht. Voller Neid müssen | |
Forscher feststellen, dass das Biom einiger Naturvölker mehr als doppelt so | |
viele gute Bakterien enthält als unseres. Auch die ballaststoffreiche | |
Ernährung der Naturvölker (Maniok, Maniok, Maniok) scheint reiche, gesunde | |
Biome hervorzubringen und den komplexen Convenience-Food-Produkten unserer | |
Nahrungsmittelindustrie weit überlegen. | |
Aber bloß nicht zurück auf die Bäume! Sondern ausbeuten, ausbeuten, | |
ausbeuten. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis Bayer Patente | |
anmeldet auf gute Bakterien wie Akkermansia muciniphila oder Faecali | |
prausnitzii und diese schön verpackt in sauberen, bunten Pillen verkauft. | |
Bislang muss ein darmkranker Westler noch eine unappetitliche | |
Stuhltransplantation über sich ergehen lassen oder sich guten Stuhl beim | |
gesunden Nachbarn holen, um über die Runden zu kommen. Das ist nicht ohne, | |
da reicht auch nicht einmal nippen, da fließt die braune Brühe in Strömen. | |
Findige Mikrobiologen, die das mit den Nuggets im Stuhl begriffen haben, | |
richten nun die ersten Stuhlbanken ein. Angenommen werden nur Fäkalien | |
höchster Qualität, und die wenigen Spender, die in der Lage sind, solche | |
Premium-Würste zu produzieren, kassieren 40 Dollar pro Charge. Überall | |
gründen sich Start-ups, die Stuhl tiefgefrieren und warten, bis beim Gros | |
der industriellen Welt der Darm so verarmt ist, dass nur noch ihre | |
brobiotischen Perlen helfen werden. | |
Achtung Schwaben: Das ist mehr drin als nur ein kleines Geschäftle. Wer | |
jetzt die Zeichen der Zeit erkennt, steigt ein beim Scheißeschürfen in den | |
berüchtigten Dixie-Klos, kooperiert mit Säuglingsstationen und Altersheimen | |
und handelt unfair mit darmglücklichen Dorfgemeinschaften aus Steppe und | |
Amazonien. Wer Augen hat zu sehen: Der Shitstorm, in dem die Darmzotten | |
wehen, ist eigentlich ein Goldregen, auf den Rohstoffmärkten wird es zu | |
größeren Flatulenzen kommen. Also nicht vergessen! Grundprinzip | |
kapitalistischen Fortschritts ist nach wie vor: Alles im Arsch und daher | |
Gold wert. | |
28 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Geraldine Zschocke | |
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