# taz.de -- Yalla, Widerspenstige | |
> Es gibt einen Trend im Sachbuch-Segment zum | |
> Autobiografisch-Identitätspolitischen. Ein kleiner Überblick | |
Bild: Women’s March in den USA. Die Akteure und die Anliegen sind divers | |
Von Miryam Schellbach | |
Als im Sommer 2016 Didier Eribons intime Klassenreflexionen unter dem | |
Titel „Rückkehr nach Reims“ auf Deutsch erschienen, kam das für zahlreiche | |
Rezensenten einer Einladung gleich, den eigenen Klassenhintergrund oder | |
-aufstieg zu durchdenken und zum Gegenstand des öffentlichen Interesses zu | |
erklären. Dies mündete schnell in einige thematisch ähnliche, zumeist | |
autobiografische Publikationen mit soziologischem Vokabular, die den | |
Begriff der Klasse neu belebten. Dass die neue Popularität | |
gesellschaftskritischer Sachbücher für ein breites Publikum nicht | |
unweigerlich zu einer neuen Agenda auf politischer Ebene führt, ist die | |
eine Beobachtung. | |
Die andere ist, dass sich heute, drei Jahre später, von einem | |
autobiografisch-identitätspolitischen Trend im Sachbuch-Segment sprechen | |
lässt, einer Art verspätetem Eribon-Effekt. Wurde diese Tür mit der lange | |
tabuisierten Frage nach Persistenz und Realität gesellschaftlicher Klassen | |
aufgestoßen, so rücken in diesem Herbst weitere Subjektkategorien in den | |
Blick. | |
Identität ist der Ober- und Reizbegriff, unter dem sich diese Kategorien | |
subsumieren lassen, die politische Diskussionen bestimmen oder sprengen und | |
an deren Rändern einerseits Privilegien, andererseits Ausgrenzung und | |
Ausschlüsse stehen: Klasse, aber auch Herkunft, Kultur, Hautfarbe oder der | |
Glaube zählen dazu. | |
Der an der New York University lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah | |
zeigt in seinem gerade übersetzten Buch „Identitäten. Die Fiktionen der | |
Zugehörigkeit“ in einer weniger soziologischen als grundbegrifflichen | |
Analyse und hilfreichen Sortierung, wie fluide und ungenau diese Kategorien | |
werden, sollen sie auf Individuen scharfgestellt werden. Angesichts einer | |
Kindheit auf mehreren Kontinenten sowie einer beruflichen | |
Professionalisierung an diversen europäischen und amerikanischen | |
Universitäten scheint ihm die Frage nach seinen Wurzeln wie das Relikt aus | |
einer anderen Zeit. | |
Eine Erfahrung, die er zum Anlass nimmt, den eurozentrisch verengten Blick | |
der Kontinentalphilosophie zu erweitern. Er zeigt, dass Subjekte in manchen | |
afrikanischen und asiatischen Kulturen längst als mobile und komplexe | |
Nichteinheiten denkbar sind: Identitäten, die „sich entfalten wie eine | |
Ziehharmonika mit ihren zahlreichen Spalten und Fältelungen“. Dass | |
kategorielle Unterscheidungen dennoch unverzichtbar dafür sind, die | |
Gesellschaft zu ordnen, soziale Kämpfe zu führen und so „unserer Freiheit | |
schärfere Konturen“ zu verleihen, ist eine der überraschenden | |
Schlussfolgerungen in diesem gelehrten und im Ton | |
sympathisch-unterhaltsamen Buch. Kontrovers ist Appiahs harter Schlag gegen | |
das Konzept der kulturellen Aneignung. Wenn alle kulturellen Praktiken und | |
Objekte fluide sind, kann niemand ihren Besitz für sich reklamieren, ohne | |
dabei dem „modernen Eigentumsregime“ anheimzufallen. | |
Eine intersektionale Verbindung von Alter und Herkunft betrachtet Johannes | |
Nichelmann in „Nachwendekinder“, bei denen er anhand im Buch nacherzählter | |
Interviews ein frappierendes Erinnerungsdefizit bemerkt, das die Frage | |
aufwirft „warum wir Nachwendekinder zu wenig, bis gar nicht mit unseren | |
Eltern über ihr Leben in der DDR sprechen“. Nichelmann rückt eine | |
Nahtstelle in den Fokus, an der sich die Verletzlichkeit zeigt, die einer | |
Transformationsgesellschaft auch über den Systemumbruch hinweg eigen ist. | |
Die Nachgeborenen beurteilen ihre Eltern und deren vermeintliche | |
Konformität anhand eines Wertesystems, das selbst erst aus der | |
transformierten Gesellschaft hervorging. Die Eltern wiederum finden keine | |
Sprache für ihre ambivalenten Erinnerungen. | |
Spürbar ist auch das neu erwachte Interesse an der jungen Generation. Mit | |
dem Klimaprotest und Greta Thunberg trat sie selbstbewusst auf die Bühne | |
der politischen Akteure, die, so beschreibt es Mareike Nieberding in ihrer | |
Streitschrift „Verwende deine Jugend“, richtiggehend „jugendverdrossen“ | |
ist. Die Parteien verlieren ihren Nachwuchs, Parteizugehörigkeit wird | |
längst nicht mehr vererbt, und junge Politiker stecken entweder in den | |
Jugendorganisationen fest oder kämpfen mit Legitimationsproblemen. Empört | |
über die Hindernisse, die jungen Erwachsenen mit Wunsch nach | |
gesellschaftlicher Partizipation in den Weg gestellt werden, ruft | |
Nieberding mit einem kreativen Forderungskatalog die Politik dazu auf, die | |
junge Generation ernst zu nehmen. | |
Wie es sich liest und anhört, wenn Empörung, unbedingter Wille zu | |
gesellschaftlicher Partizipation und die Aneignung negativer Zuschreibungen | |
aufeinandertreffen, lässt sich bei Lady Bitch Ray nachvollziehen. Die | |
Kunstfigur ist eine personifizierte An- und auch Enteignung intersektional | |
ineinandergreifender stereotyper Aussagen über das Arbeiterkind mit | |
türkischem Background, die Muslimin, die Alevitin, die Feministin, die | |
Porn-Rapperin. Gezielt gesetzte Personenzentrierung mit Street Credibility | |
fährt ihr gerade veröffentlichtes Manifest der Selbstermächtigung, „Yalla, | |
Feminismus“, auf. | |
Das Buch ist eine an Vagina-Neologismen erinnernde wortgewaltige | |
feministische Sezierung des Deutsch-Rap, des Islam sowie des Wissenschafts- | |
und Universitätsbetriebs, den Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin | |
„Fuckademia“ nennt. Şahins große Geste und ihr hehres Anliegen sind | |
sympathisch, funktionieren aber nur dann, wenn einen die enorme Ladung | |
Egozentrismus, die sie als rhetorisches Element aus dem Rap übernimmt, | |
nicht von den im Schatten der porno-sprachlichen Muskelschau stehenden | |
Feinanalysen ablenkt. | |
Lässt man sich darauf ein, bergen ihre Gedanken eine kluge Semiotik des | |
Kopftuchs (Şahin ist nebenbei auch promovierte Linguistin) genauso wie eine | |
unterhaltsame Einführung in die Geschichte des Deutsch-Rap. Das | |
widerspenstige Ich, das der Kollektivzuschreibung immer wieder von der | |
Schippe springt, ist Lady Bitch Rays Programm. | |
Das Anliegen, zu zeigen, dass Identitäten stets zwischen Zugehörigen und | |
Außenstehenden verhandelt werden, durchzieht alle diese neuen | |
Kartografierungen des Identitätskontinents unserer Gesellschaften. Manche | |
beschreiben explizit, andere lassen es beiläufig anklingen, welch enorme | |
Anstrengung dahintersteht, in einer von Abwertung und Hierarchisierung | |
geprägten Gemeinschaft kollektive Festschreibungen mit dem eigenen Ich | |
abzugleichen. Unter welchen Bedingungen es sogar gelingen kann, | |
spielerisch-subversiv mit ihnen umzugehen oder sich über sie zu erheben, | |
bleibt eine offene Frage. | |
15 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Miryam Schellbach | |
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