Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein ganz normaler Partisan
> Manche verehren Šefkija, den Gelehrten, der im Zweiten Weltkrieg in
> Jugoslawien Partisan war. Andere verachten ihn. Šefkijas Enkel versucht
> zu verstehen, warum. Eine Geschichte über Krieg und Flucht in Bosnien von
> damals bis heute
Bild: Šefkija und seine erste Frau, die Großmutter des Autors
Von Tijan Sila
Das Erste, was der Fremde mit den seltsamen Lippen – sie sahen aus wie
ranzige Éclairs – zu mir sagte, war: „Du weißt aber schon, dass dein
Großvater kein richtiger Philosoph war. Er war nur ein harter Typ, nur ein
Partisan, der nach dem Krieg so tat, als wäre er ein Philosoph.“ Die
gespielte Gleichgültigkeit, mit der er das loswerden wollte, war schon nach
drei Worten offener Bosheit gewichen. „Es gibt so eine Geschichte,
angeblich hat ihn die Gestapo mal befragt – ein Offizier schlug und schlug
mit der Pistole auf seinen Schädel ein, die Pistole ging kaputt, aber er
hat nichts verraten, dein Großvater.“ Er tippte sich auf die Schläfe: Wo
nichts sei, da könne nichts wehtun.
Zufrieden, da er glaubte, mich verletzt zu haben, lächelte er vor sich hin
und nippte an seinem Whisky. Es war Juli 2017. Ich befand mich zum ersten
Mal seit 23 Jahren in meiner Geburtsstadt Sarajevo, und alle wollten mir
etwas über meinen Großvater erzählen. Schon am Flughafen fing das an: Der
Verleger des Hauses, das beabsichtigte, meinen ersten Roman ins Bosnische
zu übersetzen, und mich nach Sarajevo eingeladen hatte, fragte mich noch in
der Empfangshalle nach meinem bürgerlichen Namen – Tijan Sila, so heiße
doch kein Mensch, jedenfalls kein Bosnier. Wie denn mein richtiger Name
sei? Ich nannte ihn.
„Stell dir vor, er ist Šefkijas Enkel“, sagte er zu der Lektorin, die uns
begleitete. Sie fand es genauso wenig beeindruckend wie ich. Vielleicht,
weil sie so jung war wie ich. Um meinen Großvater zu bewundern oder zu
hassen, musste man ein Babyboomer sein. „Dein Opa war ein harter Typ, ein
richtiger Partisan. Ist mal aus dem Gefängnis ausgebrochen“, erzählte der
Verleger während unserer Fahrt über den Meša-Selimović-Boulevard.
Selimović ist übrigens einer der besten bosnischen (und jugoslawischen)
Schriftsteller – ein ehemaliger Partisan, der, nachdem sein Bruder von
Parteigenossen wegen Möbeldiebstahls standrechtlich erschossen worden war,
verrückt wurde. Obwohl er aus einer bosnisch-muslimischen Familie stammte,
erklärte er sich zum orthodoxen Serben. Gewalt, Leid, Küchenethnologie: das
gewöhnliche Jugo-Leben.
Der erschossene Bruder war übrigens auch ein Partisan gewesen und hatte
denselben Vornamen gehabt wie mein Großvater: Šefkija, hergeleitet vom
arabischen Šawqī, der Leidenschaftliche.
Mein Vater hatte sich in Berichten über Opa Šefkija stets auf dessen
Nachkriegswerdegang als Akademiker beschränkt. Es gab zwar Zeugnisse davon,
dass mein Großvater auch dekorierter Partisan gewesen war, wie die vielen
Orden im Ausklappregal im Wohnzimmer zeigten oder seine Uniform, die
ordentlich gefaltet in einem Karton auf dem Boden der Speisekammer verstaut
lag, doch meine Eltern wollten nicht, dass ich mir den jungen Šefkija zum
Vorbild nahm – jenen Furchtlosen, der schon als Sechzehnjähriger Diversant
in Mostar wurde und zum Ende des Zweiten Weltkriegs erst 22 war, aber
bereits sechs Schusswunden davongetragen hatte. Der erwachsene Šefkija
sollte mir stattdessen vorschweben, der, der an der Universität gearbeitet,
der geschrieben, gelehrt, lektoriert und verlegt hatte. Sie hatten Erfolg:
Bis ich 2017 nach Sarajevo zurückkehrte, war mein Großvater für mich
jemand, den ich vor allem gerne kennengelernt hätte, um mit ihm über Bücher
zu sprechen.
Der größte Stolz meiner Familie ist, dass wir Bücher nicht bloß lesen,
sondern auch schreiben – mein Vater über Klassifikationssysteme
wissenschaftlicher Bibliotheken, meine Mutter über Semantik, ich über
meinen Kram und mein Großvater, der damit angefangen hatte, über Atheismus.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brüskierte er die Führung der
Kommunistischen Partei Jugoslawiens, denn er weigerte sich, trotz seiner
Verdienste im Krieg und seiner ideologischen Rigorosität, Funktionär zu
werden. Es zog ihn an die Philosophische Fakultät. Ohne es ahnen zu können,
bestimmte er damit auch über meine Biografie: Wäre ich nicht Kind einer
Akademikerfamilie, sondern der Nachkomme einer Partei-Elite im Niedergang
gewesen, hätte ich in Deutschland, nach unserer Flucht, vielleicht eine
vollkommen andere Tradition zu erhalten versucht. Wer weiß schon, welche?
Vielleicht die Aquaristik tropischer Fische.
Bis zu meiner Abreise konnte mir niemand die oft zum Ausdruck gebrachte
Bewunderung für meinen Großvater wie auch die Feindseligkeit, die manche
gegen ihn richteten, erklären. Es blieb nämlich nicht nur bei den
Bemerkungen, die der Mann mit den ekelerregenden Lippen geäußert hatte. Von
einem Dozenten der Philosophischen Fakultät, mit dem ich mich angefreundet
hatte, erfuhr ich, dass der Versuch, ein Bild meines Großvaters der
Flurgalerie wichtiger Seminarspersönlichkeiten beizufügen, am Widerstand
einiger älterer Professoren gescheitert war. „Die gehen aber bald in die
Rente, dann häng ich ihn auf“, sagte der Dozent. „Mit einer kurzen
Biografie darunter, wie sich das gehört.“
„Wieso hatten sie was dagegen?“
„Das weiß ich nicht“, sagt er. Ich hatte nicht das Gefühl, er verschweige
mir etwas, sehr wohl aber, dass er sich mit Vermutungen zurückhielt. Wie
ich feststellte, sind Bosnier einerseits aufgeschlossener und
angriffslustiger als Deutsche, wenn es darum geht, sich abfällig über
Personen der Öffentlichkeit zu äußern, und andererseits absolut unwillig,
das Geringste über Menschen zu sagen, mit denen sie beruflich zu tun haben.
## ***
Als ich in diesem Jahr nach Sarajevo zurückkehrte, um die fertige
Übersetzung meines Romans bei einem Literaturfestival zu präsentieren,
hatte sich nur eins verändert: Jetzt waren Flüchtlinge da. Für die meisten
von ihnen war Bosnien so ziemlich das allerletzte Land, in dem sie zu
stranden beabsichtigt hatten. Sie waren von kroatischen Polizisten über die
Grenze getrieben worden, wo sie dann auf Mülldeponien, im Wald, an den
Rändern nie geräumter Minenfelder im völligen Elend hausten, auf die
Gelegenheit wartend, den nächsten Vorstoß in die EU zu unternehmen. Einige
hatte es auch in die Hauptstadt verschlagen, wie Sister, einen Afghanen,
vielleicht 30 Jahre alt. Zu seinem Spitznamen war er gekommen, weil er den
Mitarbeiterinnen des zum Verlag gehörenden Buchladens für ihre Almosen
stets mit „Thank you, muslim sister“ dankte. Sister entwickelte sich bald
zum Problem – nicht, weil er täglich kam, um Tee und Gebäck zu bekommen,
sondern, weil er irgendwann mitten im Buchladen eine Plastiktüte auf dem
Boden ausbreitete, auf seinem Handy Musik laufen ließ und losbetete. Die
Reaktion der Angestellten war heftiger, als ich es erwartet hatte – obwohl
die meisten Bosnier entweder gläubige Moslems sind oder, wie ich, Vorfahren
besitzen, die es waren, stellte das Verhalten dieses Mannes eine
indiskutable Unanständigkeit dar. Was er da mache, fuhr ihn einer der
Buchhändler an; ob er nicht wisse, dass er damit die Kundschaft vertreibe?
„Wieso betest du nicht wie jeder normale Mensch in der Moschee?“ Der aus
dieser Frage entstehende Streit ist kaum nachzuzeichnen: Sister flüchtete
sich von einer Ausrede in die nächste.
Obwohl sich der Buchladen in der Nähe des osmanischen Stadtkerns Baščaršija
mit seinen prunkvollen Moscheen (die älteste, Careva, stammt aus dem 15.
Jahrhundert) befand, behauptete Sister, er kenne den Weg dorthin nicht. Auf
das Angebot, zur nächstgelegenen geführt zu werden, entgegnete er, er habe
dort Hausverbot – genau wie in allen anderen. Als man ihm vorschlug, bei
einem der Geistlichen für ihn vorzusprechen, da sich die Sache bestimmt
schlichten ließe, explodierte er: In einem Sprachgemisch aus Englisch,
Bosnisch und Deutsch brüllte er, wer Bosnier kenne, der verstehe, wieso der
Islam an den Grenzen ihres Landes ende. Nachdem er Hausverbot erteilt
bekommen hatte, wurde viel darüber gemutmaßt, was er mit diesen Worten
gemeint haben könnte. Dass sie kein Kompliment waren, stand fest. Doch war
es vielleicht eine jener Beleidigungen, auf die man stolz sein konnte? Was
hingegen Sister nicht verstand: dass man half, nicht weil er ein Moslem
war, sondern Flüchtling. Wenn in Bosnien Mitleid (stets begleitet von
bestürzter Hilflosigkeit) für die Lage der Flüchtlinge geäußert wurde, so,
weil sie etwas durchmachten, das viele Bosnier in den neunziger Jahren
ebenfalls erlebt hatten – dass es sich um Glaubensgeschwister handelt,
spielte dagegen in keinem der Gespräche, die ich über die Geflohenen
führte, eine Rolle.
„Sie tun den Leuten leid“, sagte mein Freund, der Philosophiedozent. „Es
gibt kaum ein Land, in dem sie schlechter aufgehoben sind als bei uns.“ Für
den kroatischen Grenzschutz – und somit jenen der EU – war Bosnien das
schwarze Loch, in das man alle, die um Einlass baten, werfen konnte.
„Was er wohl davon gehalten hätte?“, sagte ich, während ich das Portrait
meines Großvaters betrachtete, das mein Freund im Universitätsarchiv für
mich ausgegraben hatte. Wir saßen in seinem Büro an der Philosophischen
Fakultät, einem nüchternen, eleganten Gebäude mit Böden aus Marmor und rosa
Wandanstrich.
„Wer weiß?“, antwortete er.
Ich konnte es inzwischen immerhin vermuten. Da ich mich seit zwei Jahren
mit meinem Großvater beschäftigte, war ich mir sicher, dass die Situation
der Flüchtlinge für ihn unerträglich gewesen wäre. Menschen – Deutsche wie
Bosnier – begingen oft den Fehler, darin eine Ironie zu entdecken, dass ich
aus (und vor) Jugoslawien nach Deutschland geflohen war, obwohl mein
Großvater gegen Deutschland gekämpft hatte, damit es Jugoslawien überhaupt
geben kann. Er hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Brieffreundschaften mit deutschen Fachkollegen (auf Französisch, da er
Deutsch nicht beherrschte). Als altmodischer Kommunist hatte er gegen eine
Idee gekämpft, nicht gegen ein Volk. Ich vermute darum, dass er die
Flüchtlinge nicht vornehmlich als Angehörige einer ethnischen Gruppe
betrachtet hätte, sondern als das folgerichtige Ergebnis kapitalistischer
Verhältnisse oder als das Erbe europäischer Kolonialisierungsbestreben.
## ***
Ein weiterer Vorteil meiner Beschäftigung mit Šefkija war, dass mich
Geschichten über seine Kriegserlebnisse nicht mehr unvorbereitet trafen;
die meisten hatte ich inzwischen selbst in Erfahrung gebracht. Außerdem
verstand ich jetzt besser, was es bedeutete, wenn von Partisanen wie ihm
erzählt wurde. Für viele bosnische Männer stellen Partisanengeschichten
eine seltsame Form maskuliner Nostalgie dar – die Leben der Partisanen sind
Stellvertreter einer Zeit, als man anderen Europäern angeblich auf
Augenhöhe habe begegnen können. Darum sammelt man Geschichten über sie.
Dabei fiel mir auf, dass die Männer, die mir erzählen konnten, wie mein
Großvater einer Hinrichtung durch Italiener entkommen war (als man ihn zum
Schafott führte, warf er sich mit hinter dem Rücken gebundenen Händen von
einer Brücke in den Fluss Neretva; dabei wurde er angeschossen), und alles
über die Hinrichtung des anderen Šefkija wussten, des Möbeldiebs, die sogar
wussten, wie oft und mit wem sein Bruder, der Schriftsteller, von der
Ehefrau betrogen worden war (andauernd und stets mit Parteifunktionären) –
die Männer, die mir all das erzählen konnten und alle dem bosnischen
Literatur- und Kulturbetrieb angehörten, verloren kein Wort über den Krieg
der neunziger Jahre und dessen Veteranen.
Obwohl sie im dafür geeigneten Alter gewesen wären und alle die einjährige
Grundausbildung in der Jugoslawischen Volksarmee hinter sich hatten, war
keiner dieser Nostalgiker an der Front gewesen, als Sarajevo von Serben
belagert wurde; die weite Mehrheit hatte die Stadt schon früh verlassen.
Sie verehrten die Partisanen zwar, weil es dem Machismo und Kriegskult
Jugoslawiens entsprach, das gelegentliche Aufflackern der Missgunst, wie
ich sie in den Versuchen, meinen Großvater als Dummkopf oder Meša Selimović
als den Gehörnten darzustellen, beobachtete, entlarvte aber die qualvolle
Ahnung, dass man sich selbst belog, dass man gescheitert war, weil man ins
Ausland ging statt an die Front.
Wie alle kommunistischen Gesellschaften erzog auch Jugoslawien Kinder zur
Kriegsbereitschaft, schon von der Grundschule an. Bei manchen war die Kraft
dieser Erziehung schwächer als die Furcht vor dem Tod, ohne Folgen blieb
sie aber auch nicht.
Was wiederum die Veteranen der neunziger Jahre betraf, jene Männer und
Frauen, die ihr Leben für meins eingesetzt hatten, so traf ich sie nur am
äußersten Saum des bosnischen Kulturbetriebs, als Fahrer, Kellner,
Ähnliches. Ihnen war es egal, dass die Dichter und Schriftsteller lieber
über den Mut meines Großvaters sprachen als über ihren.
Es war ihnen auch egal, dass es bis heute keinen wirklichen Roman über die
blutige Verteidigung der Stadt gibt – besser so, sagten sie, als dass
irgendeiner dieser Poeten (das Wort spie man mit Groll aus), der es nicht
erlebte, seinen Scheiß darüber zusammenfabuliere. Wie die meisten, die an
Kriegshandlungen teilgenommen haben, erinnerten sie sich nicht gerne an
sie, sprachen nur widerwillig über das Erlebte, gestanden jedoch offen,
dass es sie schwer gezeichnet habe.
All dies einte sie mit meinem Großvater, der sein Leben mit Schreiben und
Verlegen verbrachte, jedoch keinen Satz darüber hinterließ, was er als
Partisan erlebt hatte, und sich weigerte, darüber zu sprechen. Es verirrt
sich sicherlich der eine oder andere Ernst Jünger an die Front, doch Kriege
werden von Menschen ausgefochten, die an dem, was sie erleben, zerbrechen.
Dass es in Anbetracht dessen Kriege nicht geben dürfte, haben schon viele
vor mir festgestellt, und doch sitzen afghanische und syrische Familien in
Kartons auf bosnischen Müllhalden.
„Das ist lieb, aber wir waren alltägliche Menschen, nichts Besonderes“,
wehrte einer der Veteranen ab, als ich ihm dafür zu danken versuchte, dass
er mein Leben verteidigt hatte. „Keine Helden, nix.“
Wir blickten uns eine Weile an, wie man das eben tut, wenn ein Gespräch
plötzlich ins Beklemmende geht.
„Meinst du, mein Großvater war auch ein normaler Mann?“, frage ich
schließlich; wir waren überhaupt erst ins Gespräch gekommen, weil er
mitbekommen hatte, dass Šefkija immer wieder Thema wurde, wenn ich
bestimmte Menschen traf.
„Hat er danach viel darüber geredet? Bücher und Gedichte (eigentlich sagte
er nicht „Gedichte“, sondern verächtlich: „Liedchen“) darüber geschri…
Ich verneinte. „Dann war er ein ganz normaler Typ. Du wachst auf, denkst
dir: „Ich sollte mitkämpfen. Es ist das Richtige.“ Und dann sitzt du in der
schrecklichsten Scheiße, die du dir vorstellen kannst, und dann ist die
Scheiße vorbei, und dann willst du sie nur noch vergessen. Also ja, ich
glaube, dein Großvater war ein ganz gewöhnlicher Mann.“
Man hätte Šefkija kaum ein schöneres Kompliment machen können.
Tijan Sila, geboren 1981 in Sarajevo, lebt seit 1994 in Deutschland. Er ist
Berufsschullehrer in Kaiserslautern und Schriftsteller. Zuletzt
veröffentlichte er den Roman „Die Fahne der Wünsche“, KiWi 2018, 320
Seiten, 22 Euro.
5 Oct 2019
## AUTOREN
Tijan Sila
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.