| # taz.de -- Die Berlinblockade | |
| > Das Bündnis „Extinction Rebellion“ will in der kommenden Woche die | |
| > Hauptstadt lahmlegen – durch die Blockade neuralgischer Punkte. Sie | |
| > planen den „Aufstand gegen das Aussterben“ und wollen so der | |
| > Klimakatastrophe entgehen | |
| Bild: Sich möglichst gewaltfrei wegtragen lassen will gelernt sein | |
| Von Marlene Halser | |
| Seit November 2018 ist Tanja Raab Teil der Berliner Ortsgruppe von | |
| [1][Extinction Rebellion] – einer Klimabewegung, die im Oktober 2018 in | |
| Großbritannien entstand, und die seit Beginn des Jahres auch in Deutschland | |
| immer größer wird. Raab, 48, sitzt auf der Couch ihrer Wohnung im Stadtteil | |
| Prenzlauer Berg, ihr Sweatshirt ist mit einem stilisierten Stundenglas in | |
| einem Kreis bedruckt, dem Symbol von Extinction Rebellion. Es soll | |
| bedeuten: Wenn die Menschheit nicht bald wirksame Maßnahmen ergreift, um | |
| die Klimakrise abzuwenden, läuft ihr die Zeit davon. „Rebellion gegen das | |
| Aussterben“ bedeutet Extinction Rebellion (kurz: XR) auf Deutsch. | |
| Um die Dringlichkeit ihres Anliegens medienwirksam zu verdeutlichen, wollen | |
| die über hundert deutschen XR-Ortsgruppen ab Montag den 7. Oktober in einer | |
| so genannten Rebel Wave an strategisch wichtigen Punkten die Hauptstadt | |
| blockieren. Das Vorbild ist London, wo XR seinen Ursprung hat. Über 6.000 | |
| Menschen blockierten dort im November 2018 für mehrere Stunden fünf Brücken | |
| über die Themse und im April 2019 für elf Tage zentrale Plätze im Zentrum | |
| der Stadt. Mehr als Tausend wurden festgenommen. Wenige Tage später erklärt | |
| das britische Parlament den Klimanotstand – die erste von drei | |
| [2][Forderungen], die das dezentral organisierte Bündnis gestellt hatte. | |
| In Berlin soll es mit einer „Pinken Arche“ unweit des Regierungsviertels | |
| und einer angemeldeten Performance auf dem Potsdamer Platz losgehen. „Das | |
| werden zwei Stunden autofreie Utopie mit Talks und Musik, in denen wir | |
| zeigen wollen, wie eine autofreie Stadt aussehen kann“, sagt Raab. Dann | |
| macht sie eine lange Pause und grinst. „Danach wird es zivilen Ungehorsam | |
| geben.“ | |
| Massenhafter Ziviler Ungehorsam, das ist worum es Extinction Rebellion | |
| geht; durch das Besetzen von Straßen, Brücken und Infrastruktur in einer | |
| unangemeldeten Versammlung, die auch nach wiederholter Aufforderung durch | |
| die Polizei nicht weichen soll. Festnahmen und eine Bestrafung nehmen die | |
| Protestierenden dabei bewusst in Kauf. Eine Protestform, die es schon seit | |
| Jahrzehnten gibt und die klimaaktivistische Gruppierungen wie [3][„Ende | |
| Gelände!“] seit Jahren praktizieren. | |
| Was neu ist, ist die Masse an beteiligten Menschen, die sich XR zu | |
| mobilisieren vorgenommen hat, ebenso wie der Aufruf zur absoluten | |
| Gewaltfreiheit, der in anderen Bewegungen bisweilen auf Unverständnis | |
| stößt. 3,5 Prozent der Bevölkerung müssten dauerhaft aktiv werden, um eine | |
| Systemveränderung zu erreichen, haben Forscherinnen berechnet, auf die sich | |
| die Gruppierung bezieht. In Deutschland wären das knapp 2,9 Millionen | |
| Menschen; doppelt so viele, wie beim von [4][Fridays for Future] | |
| anberaumten Klimastreik am 20. September deutschlandweit auf die Straße | |
| gegangen sind. | |
| ## Blockieren lernen | |
| Zwei Wochen zuvor steht Tori, die ihren Nachnamen aus Angst vor | |
| Strafverfolgung nicht nennen will, im Freien neben dem Kunstquartier | |
| Bethanien in Berlin-Kreuzberg. In einem Stuhlkreis. 60 Menschen sitzen um | |
| sie herum und blinzeln in die Herbstsonne. Es ist Sonntagnachmittag, und | |
| die 20-Jährige, schwarze Leggings, schwarzes Shirt, bunte Socken mit | |
| Mohrrüben darauf, unterrichtet ein Aktionstraining für XR. Wer zu diesem | |
| Training kommt, will lernen, wie so eine Blockade funktioniert. | |
| „Anders als die Teilnahme ist das Organisieren einer unangemeldeten | |
| Versammlung eine Straftat“, sagt Tori mit lauter Stimme. „Deshalb ist es | |
| wichtig, dass ihr weder euch noch andere be- oder entlastet, wenn euch die | |
| Polizei Fragen stellt.“ Initiator ist das Kollektiv. Statt eine Aussage zu | |
| machen, solle man übers Klima reden, so ihr Rat. Die Anwesenden lernen: Die | |
| Teilnahme an einer Blockade ist eine Ordnungswidrigkeit und wird im | |
| schlimmsten Fall mit einem Bußgeld bestraft. Für diese Fälle plane XR einen | |
| Solifonds einzurichten – an [5][finanzieller Zuwendung mangelt es der | |
| Gruppierung nicht]. Komme es zu einer Festnahme, sei man nach spätestens 48 | |
| Stunden wieder frei. | |
| Die von XR empfohlene Position, um sich wegtragen zu lassen, sei „das | |
| Päckchen“, sagt Tori: hinsetzten, Knie anziehen, beide Arme unter den Knien | |
| verschränken. Aufgeteilt in „Polizisten“, „Aktivisten“ und „Beobacht… | |
| üben die Teilnehmenden, wie das geht. Es ist schon das zweite | |
| Aktionstraining, dass die Studentin an diesem Wochenende gibt. „Heute Abend | |
| werde ich zum ersten Mal heiser sein“, sagt sie in der Mittagspause bei | |
| einem Falafel. Statt wie anfangs nur ein Mal im Monat, finden die Trainings | |
| in Berlin mittlerweile zwei Mal pro Woche statt, die Nachfrage wächst. | |
| Altersmäßig ist die Gruppe heterogen: zwei Menschen unter 18 sind ebenso | |
| dabei wie zwei Männer um die 50, die in den 80er Jahren schon mal auf | |
| ähnliche Weise protestiert haben, wie sie erzählen. Die meisten anderen | |
| sind zwischen 20 und 40 und haben kaum Erfahrung mit Blockaden, wie ein | |
| kurzes Stimmungsbild zu Beginn des Trainings ergeben hat. | |
| „Schon beim ersten Treffen im Dezember war klar: Hier sitzen viele | |
| Menschen, die keine Ahnung von Aktivismus haben“, sagt Tanja Raab auf ihrer | |
| Wohnzimmercouch. „Hausfrauen, Mütter, Studenten, ganz normale Menschen, die | |
| plötzlich wachgerüttelt waren und etwas unternehmen wollten, aber nicht | |
| wussten, wie das geht.“ Raab ist seit Jahren ehrenamtlich als | |
| Greenpeace-Aktivistin aktiv. Schon kurz nach dem ersten Plenum stieg sie | |
| tiefer bei XR ein, hielt erste Aktionstrainings für die damals noch rund 40 | |
| Beteiligten ab und versuchte – vergebens, wie sie sagt – bei der ersten | |
| Blockade der Berliner im Februar auf der Sandkrugbrücke nahe des | |
| Hauptbahnhofs den Überblick zu bewahren. Mittlerweile sei sie bei XR Berlin | |
| so was wie das Mädchen für alles: „Lastwagen fahren, Trainings, | |
| Polizeikontakt, Anketten“, zählt sie auf. Wenn noch irgendwo Not an der | |
| Frau ist, springe ich ein.“ | |
| Ein [6][YouTube-Video], das ihr eine Freundin geschickt hatte, habe sie im | |
| Winter 2018 sofort in den Bann gezogen, sagt Raab. Darin zu sehen: Gail | |
| Bradbrook, eine der Mitbegründe*rinnen von XR in Großbritannien, wie sie | |
| vor einem CD-Regal und vier schiefen Bilderrahmen in einem 50-minütigen | |
| Vortrag zunächst das Ausmaß der Bedrohung und dann die Taktik der geplanten | |
| Rebellion erklärt. Der radikale, auf massenhafte Mobilisierung ausgelegte | |
| Ansatz von XR, basierend auf der Erkenntnis, dass die bisher verwendeten | |
| Protest-Methoden, nicht funktionieren, hätten fundamental etwas in ihr | |
| ausgelöst, sagt sie. | |
| Noch im Dezember verkaufte Raab ihr Yoga- und Massagestudio. Seitdem gehört | |
| ihr Leben dem Klimaaktivismus. „Full time, sieben Tage die Woche, zehn bis | |
| 12 Stunden am Tag.“ Neben der Arbeit für XR unterstütze sie Fridays for | |
| Future bei der Organisation und Anmeldung von Demos und begleitet [7][Greta | |
| Thunberg] auf ihren Besuchen in Berlin, wie sie sagt. „Für mich war klar: | |
| Entweder wir reißen jetzt das Ruder herum, oder wir sind verloren.“ | |
| Roger Hallam, ein Landwirt aus Wales, der seinen Biohof aufgegeben hat, um | |
| sich in seiner Doktorarbeit am Londoner King’s College mit dem Thema | |
| Ziviler Ungehorsam zu beschäftigen, und derzeit in Haft ist, weil er | |
| angekündigt hatte, den [8][Flugverkehr am Londoner Flughafen Heathrow mit | |
| Hilfe von ferngesteuerten Drohnen lahmzulegen], hat das „XR“-Gedankengerüst | |
| in einer 79 Seiten umfassenden politischen Theorie dargelegt. Was er | |
| skizziert, ist so deutlich, wie radikal: Die Regierungen hätten angesichts | |
| der Klimakrise wider besseren Wissens versagt, nun müsse sich die | |
| Bevölkerung weltweit auflehnen und – wenn kein radikales Umdenken geschehe | |
| – an ihrer Stelle repräsentative, jedoch nach dem Zufallsprinzip | |
| zusammengestellte Bürger*innenversammlungen etablieren. Diese sollten | |
| Antworten auf die Frage erarbeiten, wie das bevorstehende Massensterben | |
| abgewendet werden könne. Zwingend notwendig seien dazu erstens eine | |
| Disruption, die dazu führe, dass das Overton-Fenster, also der Bereich des | |
| gesellschaftlich Sagbaren, zugunsten eines Diskurses über die tatsächliche | |
| Bedrohung verschoben würde. Zweitens der Wille vieler, Verhaftungen und | |
| juristische Folgen in Kauf zu nehmen, um möglichst große Solidarität in der | |
| Bevölkerung zu generieren – und drittens ein respektvoller und absolut | |
| gewaltfreier Protest. | |
| Und so ruft Tori in ihren Aktionstrainings explizit dazu auf, sich bei der | |
| Räumung einer Blockade nicht unterzuhaken, um kein gewaltsames Vorgehen der | |
| Polizei zu provozieren; ebenso wie Deeskalationsteams, die bei Blockaden im | |
| Einsatz sind, um wütende Autofahrer*innen zu beschwichtigen. | |
| „Der Massenprotest muss nicht nur gewaltfrei im physischen Sinne sein“, | |
| schreibt Hallam in „[9][Common Sense for the 21st Century“], „sondern er | |
| bedarf auch eines aktiven Respekts gegenüber der Öffentlichkeit und der | |
| Opposition, unabhängig von deren repressiver Reaktion.“ Dieser untergrabe | |
| die Möglichkeit des Regimes, die Protestierenden zu „othern“, sich von | |
| ihnen so zu distanzieren Und er erspare der Regierung einen | |
| Gesichtsverlust, wenn es zu Verhandlungen kommt. | |
| „Mittlerweile gibt es einen Witz, den ich immer wieder höre“, sagt Tanja | |
| Raab in Anlehnung an eine [10][Demonstration in Hamburg], die | |
| XR-Aktivist*innen kürzlich aus Protest verlassen hatten: „Wie bringt man | |
| eine XR-Blockade dazu, sich aufzulösen? Schrei einfach Fuck the Police.“ | |
| Dann wird sie ernst. Sie sei nicht pro Polizei, sagt sie. Und sie wisse | |
| sehr wohl, dass Menschen, die nicht das Privileg hätten, eine weiße | |
| Mittelklasse-Bürgerin zu sein, unter struktureller Polizeigewalt zu leiden | |
| hätten. „Trotzdem ist es nicht sinnvoll, die Fronten durch Provokation zu | |
| verhärten.“ Schließlich seien auch Polizeibeamte von der Klimakatastrophe | |
| betroffen. „Bei einer Blockade haben wir einfach unterschiedliche Jobs: Wir | |
| bleiben sitzen, so lange es geht und die tragen uns irgendwann weg.“ | |
| 5 Oct 2019 | |
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| [5] /Geld-fuer-Klima-AktivistInnen/!5616000/ | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=b2VkC4SnwY0 | |
| [7] /Greta-Thunberg/!t5568465/ | |
| [8] /Polizei-stoppt-Klimaaktivistinnen/!5625930/ | |
| [9] https://www.rogerhallam.com/wp-content/uploads/2019/08/Common-Sense-for-the… | |
| [10] /Klimarettung-und-Proteste/!5627081/ | |
| ## AUTOREN | |
| Marlene Halser | |
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