# taz.de -- Zwei Mütter, ein Staat | |
> In Diyarbakır protestieren Soldatenmütter mit Unterstützung der Regierung | |
> gegen die HDP. In Ankara werden sie bei Protesten gegen die AKP | |
> festgenommen | |
Bild: Links die Soldatenmütter in Diyarbakır, rechts jene in Ankara | |
Von Figen Güneş und Erk Acarer | |
Songül Altıntaş sitzt vor der HDP-Parteizentrale in Diyarbakır. In der | |
einen Hand hat sie ein Foto ihres Sohnes in Militäruniform, in der anderen | |
eine Koransure. Die PKK hat ihren Sohn Müslim Altıntaş im September 2015 | |
aus Tunceli entführt, wo er im Alter von 19 seinen Militärdienst leistete. | |
Die Mutter erzählt, dass sie keinen direkten Kontakt zu ihrem Sohn habe, | |
dass sie nur über Videoaufnahmen aus den sozialen Medien Nachrichten von | |
ihm erhalten könne. Altıntaş kommt eigentlich aus Gaziantep. Seit dem 2. | |
September protestiert sie aber jeden Tag von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr | |
abends auf den Treppen der HDP-Zentrale. Wenn sie beten möchte, geht sie in | |
die Moschee gegenüber der Parteizentrale. Sie sagt, dass sie hier bleiben | |
werde – bis sie ihren Sohn wiederhat: „Hierher zu kommen war für mich das | |
letzte Mittel. Selbst wenn der Winter kommt, selbst wenn es schneit: ich | |
werde bleiben.“ | |
Eine Gruppe von Müttern, Polizisten und Soldaten führt seit Anfang | |
September vor der HDP-Parteizentrale einen Sitzstreik durch. Die Mütter | |
behaupten, die PKK habe ihre Kinder entführt oder sie überredet, sich der | |
Organisation anzuschließen. 44 Familien protestieren hier – und jeden Tag | |
kommen neue Menschen dazu. Laut dem türkischen Menschenrechtsverein | |
befinden sich 13 Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter in Gefangenschaft der | |
PKK. | |
Songül Altıntaş glaubt, dass die Bevölkerung von Diyarbakır mehrheitlich | |
die PKK unterstütze. In ihren Augen besteht kein Unterschied zwischen der | |
PKK und der HDP: „Die HDP ist nicht so grausam wie die PKK, aber sie sind | |
Kollaborateure.“ Sie habe die HDP nach ihrem Sohn gefragt, sagt Altıntaş. | |
Und die hätte sie an die AKP verwiesen. | |
Einige der Gefangenen haben den Staat über den Menschenrechtsverein dazu | |
aufgerufen, sich für ihre Befreiung einzusetzen. Der türkische Staat hat | |
sich in der Sache aber bisher nicht geregt – vermutlich, weil seine | |
Vertreter glauben, dass Verhandlungen mit der PKK als deren Anerkennung | |
interpretiert werden könnten. | |
## Verantwortung möchte niemand übernehmen | |
Die HDP verweist ihrerseits darauf, dass das Problem im Parlament zu lösen | |
sei. Präsident Tayyip Erdoğan lehnt das ab. Erdoğan telefonierte mit einer | |
Mutter, die behauptet, nach dem Sitzstreik vor der HDP-Zentrale ihren Sohn | |
von der PKK zurückbekommen zu haben. Der Präsident sagte ihr: „Sie haben | |
Widerstand geleistet und ihr Kind aus den Händen dieser Verräter gerettet. | |
Wir brauchen solche Mütter wie Sie.“ | |
Nach diesem Telefonat wurden die Proteste größer. Auch Innenminister | |
Süleyman Soylu, der die HDP beschuldigt, die PKK zu unterstützen, und | |
deshalb drei ihrer Bürgermeister durch Zwangsverwalter ersetzen ließ, | |
erklärte seine Unterstützung für den Sitzstreik. | |
Altıntaş hat sich auch an den Staat und andere Parteien gewandt, aber ihre | |
Bemühungen blieben ohne Ergebnis. Sie erzählt, dass sie im Parlament mit | |
dem früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und mit CHP- und | |
MHP-Abgeordneten gesprochen habe. Laut Altıntaş fordert die PKK für die | |
Freilassung der gefangenen Soldaten, dass der in Haft befindliche | |
PKK-Gründer Abdullah Öcalan nicht mehr isoliert wird, dass andere | |
PKK-Mitglieder aus der Haft entlassen werden und dass Frieden geschlossen | |
wird. | |
Der ehemalige Ministerpräsident Davutoğlu habe diese Forderungen im | |
Gespräch mit ihr aber abgelehnt, erzählt Altıntaş. Warum? Man könne der PKK | |
nicht vertrauen, habe Davutoğlu gesagt. „Aber der Staat sollte einen | |
Schritt machen und die andere Seite auch“, sagt die Mutter. Spontan | |
pflichtet Sadiye Özbey, eine andere streikende Mutter, ihr bei: „Jeder soll | |
Verantwortung übernehmen.“ | |
Unterdessen hat der Sitzstreik vor der HDP-Zentrale in Diyarbakır einen | |
anderen Protest ermutigt. Es ist auch ein Protest von Soldatenmüttern, aber | |
in Ankara. Ihre Söhne waren Offiziersschüler, sie protestieren vor dem | |
Parteisitz der AKP. Ihre Söhne wurden nach dem gescheiterten Putschversuch | |
am 15. Juli 2016 inhaftiert. 259 von ihnen wurden zu lebenslänglichen | |
Haftstrafen verurteilt und befinden sich seit 38 Monaten im Gefängnis. | |
Ihnen wird vorgeworfen, sich wissentlich und bereitwillig [1][am | |
Militärputsch beteiligt] zu haben. | |
Melek Çetinkayas Sohn gehört zu jenen Soldatenschülern, die zu einer | |
lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurden. Als sie vom Sitzstreik in | |
Diyarbakır hörte, habe sie sich gedacht: „Vielleicht könnten wir uns so | |
auch Gehör verschaffen.“ Sie erzählt, dass sie schon zwei Mal festgenommen | |
wurde. Die Polizei habe ihre Festnahme damit begründet, dass Çetinkaya | |
unerlaubt ein Transparent ausgerollt habe. Dafür hat sie eine Geldstrafe | |
von 320 Lira erhalten. | |
Auf ihrem Transparent stand: „Offiziersschülern, einfachen Soldaten, | |
Unteroffizieren und Leutnanten in Ausbildung wurden lebenslängliche | |
Haftstrafen erteilt. Sie warten seit drei Jahren in den Kerkern auf | |
Gerechtigkeit.“ | |
## Der Weg zum Frieden führt über die Mütter | |
Als sie das zweite Mal festgenommen wurde, hat sie in der Haft einen | |
Nervenzusammenbruch erlitten und musste in ein Krankenhaus eingeliefert | |
werden. „Ich habe mein Kind mit 13 Jahren dem Staat anvertraut“, sagt | |
Çetinkaya. Sie unterstütze die Mütter in Diyarbakır. Und sie wünscht sich | |
Unterstützung von ihnen. Songül Altıntaş aus Diyarbakır aber findet das | |
Timing der Aktion in Ankara ungünstig: „Jetzt machen wir unsere Aktion. Aus | |
diesem Grund finde ich es nicht richtig, dass sie gleichzeitig vor dem | |
AKP-Sitz in Ankara protestieren. Sie hätten einen anderen Zeitpunkt wählen | |
können.“ | |
Aber auch der Zeitpunkt des Sitzstreiks in Diyarbakır ist umstritten. Denn | |
die Mütter starteten ihren Protest zeitgleich mit jenen, die sich [2][gegen | |
die Zwangsverwaltung] in der Stadt richten. Als herauskam, dass die Kinder | |
mancher Mütter gar nicht von der PKK entführt worden sind, hat das dem | |
Protest der Mütter zusätzlich geschadet. | |
Ömer Faruk Gergerlioğlu ist HDP-Abgeordneter aus Kocaeli und verfolgt die | |
Protestaktionen beider Gruppen. Er sagt, dass keine Mutter „so etwas | |
vormachen“ würde, und betont, dass Polemiken über die Aufrichtigkeit der | |
Mütter unangebracht seien. | |
Gergerlioğlu findet aber, dass die AKP den Müttern gegenüber eine | |
Doppelmoral an den Tag lege: „Die Mütter auf der einen Seite erhalten eine | |
grenzenlose Unterstützung. Auf der anderen Seite wird nicht einmal ein | |
zweiminütiger Protest toleriert.“ Gergerlioğlu findet, dass allein ein | |
Frieden die Lösung für beide Gruppen sei: „Der Weg dahin führt über die | |
Mütter.“ | |
Übersetzung: Levent Konca | |
5 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5545341&searchterm=putsch | |
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5619883&searchterm=Protest | |
## AUTOREN | |
Figen Güneş | |
Erk Acarer | |
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