Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Justiz in der Türkei: Den Glauben an das Recht verloren
> Das Justizsystem der Türkei befindet sich nach 17 Jahren AKP-Herrschaft
> in einem maroden Zustand. Das liegt auch an der Ausbildung von Richtern
> und Staatsanwälten.
Bild: In der Türkei agiert die Justiz derzeit als Herrschaftsinstrument
Eigentlich wollte Gönül Gören Anwältin werden. Vor fünf Jahren begann sie
ihr Jurastudium an der Marmara-Universität in Istanbul. Sie war damals
gerade 18 Jahre alt. Trotzdem kam sie schnell zu der Auffassung, dass sie
an der juristischen Fakultät zwar ein Diplom bekommen würde, sonst aber
wenig von dem, was sie sich erhofft hatte.
Ein paar Jahre lang bemühte sie sich, die Lehrinhalte irgendwie mit ihren
eigenen politischen Ansichten zusammenzubringen. Im April 2018 stand sie
kurz vor ihrer Abschlussprüfung, als sie nachts von der Polizei
festgenommen wurde. Das nächste Jahr ihres Lebens verbrachte sie im
Gefängnis.
Vorgeworfen wurde ihr, als noch minderjährige Gymnasiastin an angemeldeten
Kundgebungen teilgenommen und regierungskritische Inhalte in den Sozialen
Medien geteilt zu haben. Gören kam in eine Gemeinschaftszelle. Dort lernte
sie Rechtsanwältinnen kennen, die aufgrund ihrer anwaltlichen Tätigkeit im
Gefängnis saßen. Insgesamt kamen und gingen in dem Jahr rund 60 Frauen.
„Wir bekamen die Anklageschriften zu lesen. Es waren keine juristischen
Schriftsätze, sondern verzweifelte Wische, die jemand in ein-zwei Stunden
zusammengeschrieben hatte.“ Bei ihrer eigenen Verhandlung musste Gören mit
ansehen, wie die Einlassungen der Verteidigung im Gerichtssaal verpufften.
Das Gericht ließ sich in seinen Entscheidungen nicht beirren.
## Prinzipientreue Einzelkämpfer sterben aus
Trotzdem entschloss die 23-jährige sich, die verpassten Prüfungen vom
Gefängnis aus nachzuholen. Mittlerweile ist Gönül Gören aus der
Untersuchungshaft entlassen worden und arbeitet als Rechtsanwältin im
Praktikum. Doch ihr Verfahren läuft noch. Ob sie je eine Zulassung als
Anwältin bekommen wird, ist ungewiss. „Ich weiß mittlerweile, dass der
Situation nicht mit individuellen juristischen Anstrengungen beizukommen
ist.“
Eigentlich sprießen in der Türkei die juristischen Fakultäten aus dem Boden
wie Pilze. In den letzten zehn Jahren stieg die Gesamtzahl der
Jura-Absolvent*innen um 70 Prozent. Landesweit gibt es 79 juristische
Fakultäten, für die es oft schwieriger ist, Lehrpersonal zu finden als
Studierende. Jedes Jahr nehmen rund 16.000 junge Menschen ein Jurastudium
auf. Eine Anwesenheitspflicht gibt es häufig nicht, so dass sich die
Studierenden mit kopierten Vorlesungsmitschriften auf die Prüfungen
vorbereiten können. Entsprechende Reader bieten die meisten Copy-Shops an.
Wer mit hohen Idealen anfängt, passt sich im Laufe der Jahre automatisch
dem Betrieb an. Oder landet im Gefängnis wie Gönül.
Die türkischen Anwaltskammern haben insgesamt 116.000 Mitglieder. In der
Praxis heißt das, dass der Wettbewerb auf dem umkämpften Markt viele
Anwält*innen in schlecht bezahlte Anstellungsverhältnisse in Großkanzleien
zwingt. Die prinzipientreuen Einzelkämpfer, denen es um die Sache geht,
sterben aus. Ohnehin wird nach Angaben von Human Rights Watch derzeit mehr
als 1.500 Anwält*innen für ihre berufliche Tätigkeit der Prozess gemacht.
Eine 31-jährige Istanbuler Rechtsanwältin, die ihren Namen nicht in der
Zeitung lesen will, steht nach acht Jahren Berufserfahrung in der
Millionenstadt an einem Punkt, an dem sie jeder weitere Tag noch
pessimistischer stimmt. „Meinen Glauben an die Funktionalität unseres
Rechtssystems habe ich schon an der Uni verloren“, sagt sie. Sie bekam
damals schon mit, wie verschiedene politische Gruppen und religiöse
Gemeinschaften mittels starker Seilschaften ihre eigenen Leute in die
Richterposten hievten.
## Das Recht des Stärkeren
Die politischen Kräfteverhältnisse mögen sich ändern, der Mechanismus
bleibt aber der gleiche. „Damals war eine Referenz der Gülen-Bewegung ein
Eintrittsschein in sämtliche Institutionen der Justiz. Die Gülen-Gemeinde
wurde herausgesäubert. Jetzt herrschen die von der Regierung favorisierten
Akteure“, sagt sie. Wer der Regierung nicht nahesteht, genießt keine
Rechtssicherheit mehr. Wer die Gunst der Regierung genießt, könne
allerdings sein unrechtmäßiges Handeln durch die Justizorgane legitimieren
lassen.
„Wir Anwältinnen haben unseren Glauben ans Recht und damit an unseren Beruf
verloren. Die tägliche Auseinandersetzung mit falschen Entscheidungen von
Männern, die von den Machthabern als Richter eingesetzt wurden, verschleißt
und nagt am Selbstvertrauen. Viele von uns wollen diesen Beruf leider nicht
länger ausüben und bereiten sich lieber auf ein Leben als Pizzabäcker in
London oder als Kellnerin in Amsterdam vor“, sagt die Juristin.
Nach zehn Jahren als Dozentin für Rechtsphilosophie und Soziologie des
Rechts wurde Ceren Akçabay per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst
entfernt. Auch sie konstatiert eine Entfremdung der Jurist*innen vom
Rechtssystem. „Die Regierung ist nicht mehr darauf angewiesen, ihr Handeln
juristisch zu legitimieren. Die Jurist*innen identifizieren sich nicht mehr
mit ihrer Rolle. Ihnen schwimmt der Boden unter den Füßen weg, wenn es
keine unabhängige und unparteiische Justiz mehr gibt“, sagt Akçabay. „Was
bleibt, ist ein simpler Pragmatismus auf unserer Seite und unendliche
Repression auf der anderen.“
Für die ehemalige Juradozentin steht damit zur Debatte, welchen Stellenwert
das Recht für soziale Kämpfe überhaupt noch haben kann. „Jurist*innen, die
Angst vor ihrem eigenen Schatten haben, ist nicht mehr zu helfen“, lautet
ihre bittere Bilanz.
## Ein Instrument der Machtpolitik
Während der Europäische Menschengerichtshof in Straßburg mit einer kaum zu
bewältigenden Anzahl an Einzelbeschwerden türkischer Bürger*innen
überflutet wird, legt der türkische Menschenrechtsverein IHD Berichte vor,
die systematische Rechtsbeugung dokumentieren. An den Hochschulen und in
den Kammern, in der Verwaltung und an den Gerichten haben sich Jurist*innen
etabliert, für die ihr Metier keine Sache der Prinzipien mehr ist, sondern
ein Instrument der Machtpolitik.
Auch unter den Richter*innen ist die Situation ähnlich. Viele Richter*innen
wissen aus eigener Erfahrung, dass das Verhältnis von Recht und Politik in
der Türkei stets ein problematisches war. Aber sie betonen auch, dass sich
die Erosion der letzten Jahre qualitativ von der Situation nach den
Militärputschen der Vergangenheit oder den Gegebenheiten unter dem
Ein-Parteien-System der frühen Republikzeit unterscheiden.
Mustafa Karadağ ist der ehemalige Vorsitzende der Richtergewerkschaft. Nach
knapp dreißig Jahren als Richter drohte man ihm eine Strafversetzung an.
Karadağ quittierte den Staatsdienst und begann als Rechtsanwalt zu
arbeiten. Er findet, dass Richter*innen mittlerweile nur noch Befehle
ausführen: „Wenn die Justiz zum Schlagstock der Regierung wird, dann werden
Richter*innen zu befehlshörigen Beamt*innen. Dass solche Richter*innen
juristische Grundsätze verinnerlichen, ist unmöglich. Das einzige, was sie
verinnerlichen, ist der Fortbestand der Regierung.“
Laut Karadağ hängt das Problem auch mit der Ausbildung der Richter*innen
zusammen: „In der Türkei werden Richter und Staatsanwälte seit 15 Jahren an
den Rechtsakademien ausgebildet, die unmittelbar den Anweisungen des
Justizministeriums unterstehen. Die frischen Juraabsolvent*innen werden
hier nicht von Akademiker*innen ausgebildet, sondern von Menschen
indoktriniert, die man hier und da rekrutiert hat. Sie können sich
vorstellen, wie leicht man diese Menschen zu befehlshörigen Beamt*innen
erziehen kann.“
## Früher gab es den Schein einer funktionierenden Justiz
Auch Orhan Gazi Ertekin, der Vorsitzende des Vereins für Demokratische
Gerichtsbarkeit, kritisiert die Verschlechterung des Justizsystems unter
der AKP. Vor der AKP habe es immerhin noch den Schein einer
funktionierenden Justiz gegeben. Heute gebe es nicht einmal das: „Die
Richter*innen und Staatsanwält*innen versuchen ihrer Mission mit täglichen
Lippenbekenntnissen zur Gerechtigkeit beizukommen. Dabei sind sie sich der
erschreckenden Realität sehr wohl bewusst. Sie wissen, dass sie
Mitverantwortliche und Ausführende einer schreienden Ungerechtigkeit sind.“
All das weist darauf hin, dass es nicht die Gesetze selbst sind, die
garantieren, dass ein Staat rechtsstaatlich agiert. Es ist vielmehr die
Fähigkeit der Richter*innen und Staatsanwält*innen, jene Funktion
abzulehnen, die ihnen die politische Macht zuteilt.
Für Gönül Gören gibt es keine Zukunft, solange sich nicht alle Akteur*innen
des Rechtssystems angesprochen fühlen: „Manchmal verliere ich meine
Hoffnung. Aber ich habe immer noch Lust darauf, meine Zulassung zu bekommen
und als Anwältin zu arbeiten. Wir jungen Jurist*innen brauchen etwas, an
das wir glauben können. Wir wollen sehen, dass die Anwaltskammern und
Berufsvereinigungen ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich glaube, wenn jene
Kammern, die noch an die Rechtsstaatlichkeit glauben, gemeinsam kämpfen,
kann sich vieles ändern.“
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny und Volkan Ağar
17 Sep 2019
## AUTOREN
Eren Paydaş
## TAGS
taz.gazete
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.