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# taz.de -- Jekyll, Hyde und das Ei
> Frankreich gewinnt eines der spannendsten Gruppenspiele, die eine
> Rugby-WM je gesehen hat, gegen Argentinien – auch dank des neuen
> Jugendstils
Bild: Auch Gael Fickou (25) hatte in der 2. Halbzeit Probleme, sich gegen die a…
Aus Tokio Christian Henkel
Wie bei allen anderen Sportarten kann es auch im Rugby passieren, dass ein
Spiel von Geistern aus der Vergangenheit heimgesucht und nachhaltig
beeinflusst wird. Daran musste der Franzose Camille Lopez wohl gedacht
haben, als er sich kurz nach seiner Einwechslung etwa 35 Meter vor dem
Malfeld der Argentinier ein Herz fasste, seine ganze Kraft in den linken
Fuß legte und das Ei mittels Drop Kick Richtung Tor beförderte. Das
Ellipsoid schaffte es mit letzter Mühe über die Querstange und beendete ein
halbstündiges Siechtum der Le Bleus. In ihrem ersten Spiel bei der WM in
Japan hatten die Gallier zur Halbzeit schon 20:3 geführt und waren nun kurz
davor, ihren Vorteil wieder herzuschenken. Es muss wie ein Déjà-vu gewesen
sein. Denn schon im Februar hatte man gegen den späteren Six-Nations-Sieger
Wales zur Halbzeit 16:0 geführt und am Ende noch verloren.
Diesmal konnten die Franzosen den 23:21-Sieg retten und sich eine gute
Ausgangsposition schaffen in der Todesgruppe C, in der sich neben
Frankreich und Argentinien auch der frühere Weltmeister England befindet.
Weitere Favoriten trafen sich im anderen Topspiel des Tages, das die
Neuseeländer 23:13 gegen Südafrika gewannen.
Interessanterweise aber war der Jekyll-und-Hyde-Auftritt der Franzosen, der
aufgrund des Matchplans von Jacques Brunel allerdings auch zu erwarten
gewesen war. Denn der französische Nationaltrainer wollte Argentinien mit
jungen Spielern schon frühzeitig in der Partie einen offensiven Spielstil
aufzwingen, um die Pumas dann in der zweiten Hälfte mit erfahrenen
Veteranen zu schlagen, wenn sie müde werden. Und tatsächlich zeigten seine
Männer in der ersten Halbzeit das, was von Liebhabern des Sports immer
wieder bewundernd „Running Rugby“ genannt wird. Innerhalb von nur zwei
Minuten legten Gaël Fickou (19.) und Antoine Dupont (21.) zwei Versuche ins
Malfeld der Argentinier und ließen diese sich verwundert am Kopf kratzend
zurück
Zur Halbzeit hieß es 20:3 für Le Bleus, an eine Rückkehr der Gauchos mochte
zu diesem Zeitpunkt keiner mehr so richtig glauben. Wie seine Amtsvorgänger
hatte auch Jaques Brunel versprochen das berühmt-berüchtigte „French Flair�…
zu revitalisieren, jenen für die nördliche Hemisphäre einzigartigen Stil
aus flüssigem Pass- und Laufspiel sowie grenzwertig rustikalem
Körpereinsatz. Mit dieser Taktik hatte es Frankreich in den 1980ern und
1990ern dreimal ins WM-Endspiel geschafft. Brunel tut gut daran, auf die
neue Generation zu setzen. Immerhin sind die dieses Jahr zum zweiten Mal
hintereinander Junioren-Weltmeister geworden.
Dass die Jungen allerdings noch etwas grün hinter den verformten Ohren
sind, zeigte die zweite Hälfte gegen die im Schnitt deutlich älteren und
erfahreneren Pumas. Denn nun änderte sich die Stimmung schlagartig. Während
die französische Mannschaft ähnlich wie ihre zahlreichen Fans im Tokioter
Ajinomoto-Stadion immer introvertierter wurde, schienen sich die
Argentinier an der Schwäche ihrer Kontrahenten aufzurichten. Nach Versuchen
von Guido Petti (43.) und Julian Montoya (54.) sowie einem Penalty von
Benjamin Urdapilleta (58.) waren die Argentinier zwanzig Minuten vor ultimo
auf zwei Punkte heran. Das Drama schien seinen Lauf zu nehmen, als wiederum
Benjamin Urdapilleta in der 69. Minute die Hellblau-weiß-Gestreiften sogar
mit 21:20 in Front brachte. Doch nur eine Minute später schlug die Stunde
des Veteranen Camille Lopez und seinem Drop Goal mitten ins Herz der sich
leidenschaftlich aufbäumenden Argentinier.
Der Schlusspunkt unter eines der spannendsten Gruppenspiele der
WM-Geschichte war damit allerdings immer noch nicht gesetzt. Denn
Argentinien warf nun alles nach vorn und wurde in der allerletzten Minute
mit einem Penalty belohnt. Allerdings erwies sich ein taktischer Wechsel
des argentinischen Trainers Mario Ledesma als folgenschwer. Denn Kicker
Benjamin Urdapilleta, der vorher seine Strafstöße sicher verwandelt hatte,
saß längst auf der Bank. So war es Emiliano Boffelli, der aus 47 Meter
Entfernung den Schuss zwischen die Malstangen verfehlte und die Pumas samt
ihrer fanatischen Fans ins Tal der Tränen stürzte. Der letzte Trost der
Pumas: Bei einer Niederlage mit sieben oder weniger Punkten Unterschied
gibt es bei der WM einen Bonuspunkt. Das machte nach diesem enttäuschenden
Abend von Tokio Hoffnung für die entscheidende Begegnung am 5. Oktober
gegen England.
23 Sep 2019
## AUTOREN
Christian Henkel
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