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# taz.de -- Das Ende vom Deutschen Traum: Der Brotverteiler von Kreuzberg
> Seit sieben Jahren verteilt „ Ekmekçi Dede“ Backwaren, die nicht verkauft
> werden. Ein Rundgang durch Berlin-Kreuzberg.
Am Eingang des Hohenstaufenplatzes am Kottbusser Damm, sitzen Menschen aus
aller Welt auf Bänken und genießen den Abend. Arabische, türkische,
deutsche und polnische Worte schwirren durch die Luft. Auf der einen Seite
plaudern ältere türkeistämmige Frauen, junge Leute hören aus Lautsprechern
Musik, Kinder spielen um ihre Väter herum Verstecken. Auf der anderen Seite
streitet sich eine Gruppe Obdachloser.
Ein Mann mit Schirmmütze auf dem Kopf nähert sich. Er trägt Brotlaibe und
belegte Brötchen in Tüten, die er gerade aus einer Bäckerei geholt hat und
beginnt sie zu verteilen. Die Frauen nehmen die Gabe, die Obdachlosen
beenden ihren Streit und bedienen sich ebenfalls.
Seit fast sieben Jahren, fast jeden Tag, geht das schon so – ein kleines
Ritual der Menschlichkeit in dieser großen, manchmal unmenschlichen, Stadt.
Der Wohltäter nennt sich „Ekmekçi Dede“ (Der Opa, der Brot verteilt) und
verschenkt Brot und Brötchen, die Bäckereien nicht verkaufen konnten.
Leicht humpelnd läuft der 50jährige vom S-Bahnhof Hermannstraße zum
Kottbusser Tor. Er geht auf jeden zu, der ihm ins Auge fällt. Dann streckt
er eine der Tüten aus, die an seiner Schulter hängen. Warum tut er das?
„Das Wichtigste ist, dass man in diesem Irrenhaus andere Menschen berühren
kann“, sagt er.
## Menschen, die sich an nichts mehr festklammern können
Diese Gegend waren einst ein Migrantenviertel am Rand der Mauer, die West –
und Ostberlin voneinander trennte. Hier kauften Gastarbeiter auf Märkten
ein, dröhnten Punkbars, lebten Hausbesetzer. Heute liegt der Kiez nicht
mehr am Rande, sondern mitten in Berlin.
Er zieht inzwischen junge Leute aus allen Ecken Europas an, und er dient
als eine Art Asyl für zahlreiche Außenseiter: Obdachlose, politische
Geflüchtete, kriminelle Banden. Für Dede sind diese Straßen nichts anderes
als ein „großes Irrenhaus“: „Alle, die hierher kommen, laufen hinter ein…
imaginären Deutschland her. Alle bilden sich irgendwie ein, sie wären im
Himmel auf Erden angekommen. Alle diese Straßen sind voll mit Menschen, die
arm und einsam sind. Es sind Menschen, die von anderswoher stammen – Polen,
Rumänen, Geflüchtete… Menschen, die sich an nichts mehr festklammern
können.“
Dede will seinen Namen nicht nennen. Er stammt ursprünglich aus Dersim,
einer Gegend in der Türkei, in der viele Aleviten leben. Früher arbeitete
er als freiberuflicher Buchhalter. Vor 17 Jahren zog er nach Deutschland.
Darüber, wie und warum er kam, möchte er ebenfalls nicht reden. Nur soviel:
Er gründete eine Firma, landete nach einem Unfall im Krankenhaus. An dem
Tag, als er auf Krücken das Krankenhaus verließ, habe er die belegten
Brötchen gesehen, die vor einer Bäckerei in einen Mülleimer geworfen
wurden, sagt er. Und plötzlich wusste er, wie er sein Selbstmitleid
bekämpfen konnte.
An jenem Tag habe er den Bäcker überredet, alle Essensreste in eine Tüte zu
packen und dann die Schwäne im Landwehr-Kanal gefüttert. Als ein
Obdachloser ihn um ein Brötchen bat und plötzlich andere dazu kamen, war
ein neuer Mensch geboren: „Dede“.
## „Er hat so viel gesehen, so viele Menschen gerettet.“
„Seit jenem Tag habe ich mir die Lebensmittelverteilung zur Aufgabe
gemacht. In der alevitischen Kultur, aus der ich stamme, wird Weizen als
heilig betrachtet, und es wird erzählt, dass Adams Geschichte im Diesseits
mit einer Prüfung mit Weizen begann. Wer warum Hunger leiden muss,
interessiert mich nicht.“
Dede arbeitet tagsüber in einer Fabrik, in der Autoersatzteile produziert
werden. Vor und nach der Arbeit macht er sich auf den Weg, der Neukölln mit
Kreuzberg verbindet. Er kennt alle Händler an der Straße. Ein
Sandwichverkäufer steckt für ihn Brötchen in eine Tüte und sagt über ihn:
„Er hat so viel gesehen, so viele Menschen gerettet.“
Zu den Obdachlosen und Bedürftigen, denen er seit Jahren in denselben
Straßen begegnet, hat er eine besondere Beziehung. Er kennt die Geschichten
der Frau, die jeden Abend an der gleichen Ecke auf ihr Abendbrot wartet,
des Mädchens, das seit drei Monaten in einem U-Bahnhof lebt und mit jedem
Tag ausgemergelter wirkt, und des Mannes, der jeden dritten Tag seine
Schuhe verliert.
Zwischen den Schlafsäcken, die sie an U-Bahneingängen ausgebreitet haben,
behandeln sie Dede wie einen Nachbarn, der sie jeden Abend zu Hause
besucht. Einige Obdachlose fragen ihn nach dem Verbleib ihrer Freunde, die
in der letzten Zeit nicht mehr zu sehen waren. Woher aber die Brotlaibe,
Brötchen und Pides stammen, scheint niemanden zu interessieren.
Dede weiß, was diese Geschichten in einem Land bedeuten, in dem jährlich
1,7 Millionen Tonnen Backwaren im Müll landen. Er weiß auch, dass er das
Elend mit seinen kleinen Gaben nicht bewältigen kann.
Der Held dieser Geschichte ist keine Lichtfigur. Ihn stören zum Beispiel
manche Migrantengruppen in Berlin. Obwohl er selbst einer migrantischen
Community angehört, sieht er einen Unterschied zwischen der seinen und den
anderen: „Wir wurden hierher eingeladen, um Deutschland wieder aufzubauen.
Wir sind nicht so wie die Anderen“, sagt er. Aber wenn es um Brotverteilung
geht, vergisst er diese Worte. Ist das ein Widerspruch? Seiner Meinung nach
nicht: „Das alles spielt keine Rolle. Wenn ich meine Tüte aufmache, ist mir
nur wichtig, wer mich gefunden hat.“
Er entdeckt einen alten Mann, der Pfandflaschen sammelt – ein Geflüchteter
aus Syrien, der in einer Sammelunterkunft wohnt. Dede zeigt auf den Stuhl
vor einer Bäckerei: „Setz dich hierhin und warte.“ Einige Minuten später
kommt er mit einer Tüte voller belegter Brötchen hinaus und drückt sie dem
alten Mann in die Hand. Der schüttelt Dede die Hand und entfernt sich ohne
Worte.
Dede schaut auf die übrigen Brote: „Den Rest verteile ich vor der
Frühschicht. Und wenn es keine Menschen gibt, die es wollen, warten die
Vögel am Kanal auf mich.“
Aus dem Türkischen von Levent Konca
27 Aug 2019
## AUTOREN
Eren Paydaş
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