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# taz.de -- debatte: Bürgerräte haben Potenzial
> Die Regierung bricht ihr Versprechen, weitere Elemente der
> Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie einzuführen. Dabei sind diese
> außerordentlich sinnvoll
Im Koalitionsvertrag der Groko steht klar und deutlich: „Wir werden eine
Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in
welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie
durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie
ergänzt werden kann.“ Aber wo ist sie denn, die Kommission? Offenbar haben
Union wie SPD vor dem Thema entsetzliche Angst. Denn es müsste Tacheles
geredet werden über die abnehmende Resonanz zwischen Wählenden und
Gewählten, über die Unzufriedenheit von fast der Hälfte aller befragten
Bundesdeutschen mit der herrschenden Form von Demokratie – was sich ja auch
an Stimmen für die AfD zeigt.
Die Regierungskoalition bricht also ihre Versprechen. Dabei ist unter
anderem Irland ein Beispiel dafür, wie positiv, wie befriedend sich
Bürgerbeteiligung auswirken kann. Im Auftrag des irischen Parlaments hat
2013 eine Bürgerversammlung von 100 Personen – 66 ausgeloste Laien, 33
Politiker, ein Vorsitzender – darüber diskutiert, ob die Homoehe erlaubt
werden sollte. Sie tagte ein ganzes Jahr lang, immer ein bezahltes
Wochenende pro Monat, beriet unter Medienbegleitung ausführlich jedes Pro
und Contra und gab schließlich mit 77 Stimmen eine Pro-Empfehlung ab. Mitte
2015 ließ die Regierung darüber ein Referendum abhalten. Ergebnis: 62
Prozent stimmten der Verfassungsänderung zu. Und das wohlgemerkt im
erzkatholischen Irland. Im ebenfalls katholischen Frankreich führte die
Einführung der Homoehe ohne vorherige Bürgerkonsultationen zu
Protestdemonstrationen von Hunderttausenden. Und hätte sich Großbritannien
bei der Brexit-Frage an das irische Modell gehalten, hätte es wohl ein
anderes Ergebnis und ganz sicher nicht die hasserfüllte Spaltung der
Gesellschaft gegeben.
Das wirft ein Schlaglicht auf das enorme Potenzial von Bürgerräten, wenn
sie die ganze Bevölkerung vertreten. Wichtig ist deshalb, dass die
Beteiligten repräsentativ ausgelost werden: Falls im ersten Stadium
vorwiegend alte weiße Männer oder vorwiegend junge schwarze Frauen
ausgewählt werden, wird weiter gelost, bis die Repräsentativität bei
Geschlecht, Alter, Herkunft und Bildungsgrad stimmt.
Bürgerräte haben den riesigen Vorteil, dass sie frei von Eigen- und
Parteiinteressen und Lobby-Einflüsterungen Sachfragen erörtern können. Die
allermeisten Ausgelosten sind begeistert dabei, weil sie endlich etwas zu
sagen haben, weil ihre Stimme gehört wird. Es gibt rührende Geschichten wie
die von dem irischen Lastwagenfahrer Finnbar O’Brien, der als Kind
missbraucht wurde und Schwule hasste, bis er in der Bürgerversammlung
Freundschaft mit ihnen schloss.
Der bundesweite Verein „Mehr Demokratie“ hat sich bisher vor allem um die
Einführung von direkter Demokratie und Volksabstimmungen gekümmert. Nun
plant die NGO ein Demokratie-Doppelmoppel, nämlich einen bundesweiten
Bürgerrat zur Demokratie-Erweiterung, finanziert von der
Schöpflin-Stiftung. In Vorbereitung dazu organisierte sie im Juni und Juli
„Regionalkonferenzen“ mit je 40 bis 80 Menschen, die an kleinen Tischen
diskutierten. In Erfurt war Bodo Ramelow mit anwesend, in Schwerin Dietmar
Bartsch, in Gütersloh Ralph Brinkhaus, in Mannheim Gisela Erler.
Laut Claudine Nierth von „Mehr Demokratie“ war die Resonanz
„überwältigend“. Es fielen Kommentare wie: „Großartig, die Idee mit dem
deutschlandweiten Bürgerrat. Genau das brauchen wir jetzt.“ Oder:
Ausgeloste Bürgerräte seien „ein echtes Minideutschland, das ganze Land
klein oder fein an einem Tisch.“ Statt Parteienmüdigkeit: plötzlich
Euphorie. Im nächsten Schritt soll nun ein 160-köpfiger Bürgerrat ausgelost
werden, der die wichtigsten Themen aus den Regionalkonferenzen diskutiert
und ein Bürgergutachten zur Demokratieerweiterung erarbeitet. Die
Ergebnisse sollen im November 2019 dem Bundestag übergeben werden.
Und „Mehr Demokratie“ hat noch mehr vor: Der Verein will Bundeskanzlerin
und „Klimakabinett“ dazu bringen, einen weiteren Bürgerrat zum Thema
Klimaschutz zu organisieren, wissenschaftlich beraten von einem Beirat aus
den wichtigsten Forschungsinstituten. Ein solcher überparteilicher
Klimarat, der einen sozial ausgewogenen Katalog der dringlichsten Maßnahmen
erarbeitet, würde voraussichtlich auf viel Resonanz und Akzeptanz stoßen.
„Bürgerräte können einen breiten gesellschaftlichen Konsens herstellen
hinsichtlich der Handlungsnotwendigkeit, möglicher Zielkonflikte und zu
anstehenden Umsetzungsmaßnahmen“, heißt es dazu in einem Papier von „Mehr
Demokratie“.
Parallel dazu hat auch das Umweltbundesamt in seiner Studie „Bundesrepublik
3.0“ Erfahrungen in Irland, Island, Kanada, Vorarlberg und anderswo
ausgewertet und das Potenzial konsultativer Verfahren entdeckt. Man könne
diese unter dem Dach einer ständigen „Bundesbeteiligungswerkstatt“
zusammenfassen, schlägt das Autorenteam vor. Es versucht der Politik die
Angst davor zu nehmen: „Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch
ein zusätzliches Gremium ersetzt die gegebenen Zuständigkeiten nicht.
Vielmehr können neue Beteiligungsformate die Arbeit von Legislative und
Exekutive unterstützen, ergänzen und anreichern.“ Voraussetzung sei
allerdings, dass die Bundesregierung oder der Bundestag eine
„Befassungspflicht“ bezüglich der Bürgeranliegen habe oder
Volksabstimmungen über Bürgergutachten und Gesetzesinitiativen stattfänden.
Demokratie könnte weit attraktiver werden, wenn repräsentative, direkte und
konsultative Elemente kombiniert würden. Dazu müsste nicht einmal die
Verfassung geändert werden. Natürlich kostet Bürgerbeteiligung Geld. Doch
sie würde am Ende mit Sicherheit billiger ausfallen als eine Staatskrise,
wenn Rechtspopulisten an die Macht kämen. Plakativ formuliert ist das ein
Sonderangebot: 1 kg Demokratie für 5,99.
6 Sep 2019
## AUTOREN
Ute Scheub
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