# taz.de -- heute in hamburg: „Relativierung der deutschen Schuld“ | |
Bild: Foto: Max Zerrahn | |
Interview Inga Kemper | |
taz: Herr Bohr, warum hat sich Willy Brandt (SPD) für die Freilassung von | |
NS-Kriegsverbrechern eingesetzt? | |
Felix Bohr: Willy Brandt führte in seiner Zeit als Außenminister und als | |
Bundeskanzler einerseits die Politik der Kriegsverbrecherhilfe seiner | |
Vorgängerregierungen fort. Zum anderen begann er sich für Häftlinge | |
einzusetzen, weil das damals die Parteipolitik der SPD war. In der jungen | |
Bundesrepublik konnte man nur Volkspartei sein, wenn man auch auf dieses | |
Milieu, also die Lobbygruppen der NS-Täter, zuging. | |
Wie stark war denn diese Lobby in den 1970er-Jahren, als Brandt schon | |
Bundeskanzler war? | |
Die Lobbygruppen, also die Vereinigungen der alten Kameraden mit ehemaligen | |
SS-Männern oder Soldaten, hatten 1977 noch über zwei Millionen Mitglieder. | |
Aber nicht alle Unterstützer waren in den Vereinigungen organisiert. In | |
weiten Teilen der Gesellschaft, gerade im konservativen Milieu, ging es | |
auch um die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte und die | |
Relativierung der deutschen Schuld. Solange aber diese Männer im Ausland | |
inhaftiert waren, saßen dort noch lebende Beweise dieser Schuld, denn das | |
waren ja rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher. | |
Welche Fälle haben Sie untersucht? | |
Das waren fünf Kriegsverbrecher und NS-Täter und die einzigen, die über | |
mehrere Jahrzehnte im westeuropäischen Ausland in Haft saßen. Die weitaus | |
größte Zahl der deutschen Täter kam bereits in den 1950er-Jahren frei. | |
Wegen ihrer Besatzungsverbrechen, die sie in den Niederlanden und Italien | |
begangen hatten, waren diese fünf Täter berüchtigt und zu bekannt, um | |
amnestiert zu werden. Herbert Kappler beispielsweise hatte das Massaker in | |
den Ardeatinischen Höhlen organisiert. Dort wurden am 24. März 1944 in | |
einer sogenannten Sühnemaßnahme 335 Italiener per Genickschuss | |
hingerichtet. Das waren willkürlich ausgewählte Menschen. | |
Wie ging die Bundesregierung mit den Tätern nach ihrer Freilassung um? | |
Im Fall Kappler sehr zögerlich. Kappler ist 1977 aus einem | |
Militärkrankenhaus in Rom geflohen. Vorher wurde er jahrzehntelang von der | |
Bundesregierung rechtlich und politisch unterstützt. Da fällt schon auf, | |
dass sich die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) mit einer | |
Reaktion schwer tat. Sie reagierte erst mal gar nicht, während es in | |
Italien einen öffentlichen Aufschrei gab. Kappler floh nach Soltau, wo er | |
mit Blumen empfangen wurde. Noch in den 1970er-Jahren wurden diese Männer | |
nur in den seltensten Fällen als Kriegsverbrecher bezeichnet, sondern als | |
Kriegsverurteilte. | |
5 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Inga Kemper | |
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