# taz.de -- berliner szenen: Voltaire, Karl May und die Stadt | |
Es ist Freitag früh in der U7, ich habe wenig geschlafen, das Wochenende | |
liegt zum Greifen nah und ist doch nicht greifbar. In der Nacht hat eine | |
Bekannte ein Foto bei Instagram hochgeladen. Sie sitzt auf einem | |
vierrädrigen Monstermobil in der ägyptischen Wüste, zeigt das | |
Victory-Zeichen, und ihre Oberschenkel glänzen. Wie schreibt man Berlin | |
auf, denke ich, und welche Beziehung habe ich zu dieser Stadt? Wäre Berlin | |
ein Mensch, wäre die Beziehung schwierig. Wäre Berlin ein Tier, auch. | |
Diesen hier kenne ich, er ist ein alter Nachbar von mir. Als ich vor langer | |
Zeit eine Einweihungsparty machte, stand er gegen drei vor meiner | |
Wohnungstür und sagte: „So geht das nicht!“ Er zitterte vor Erregung. Ich | |
versprach ihm, die Fenster zum Hof sofort zu schließen. Er fuhr nachts Taxi | |
und sah immer müde aus. Auch jetzt sieht er müde aus. Er liest konzentriert | |
Voltaire und lacht plötzlich schallend auf, sodass der Waggon für einen | |
Moment erstarrt. Neben ihm ein Jugendlicher. Mit der rechten Hand hält er | |
seinen orangefarbenen Rucksack fest, mit der linken Hand das Buch „Durch | |
die Wüste“ von Karl May, zehn Zentimeter entfernt vor seinen Augen. Seine | |
Lippen formen die Worte nach. Gegenüber von ihnen eine kleine, dicke Frau | |
in einer Bluse mit Tigermuster. Sie trägt eine große schwarze Sonnenbrille | |
mit einem breiten beigen Rand. Auf ihrem Kopf sitzen Bügelkopfhörer. Ihre | |
Mundwinkel hängen. Sie sieht ein wenig aus wie eine beleidigte Biene Maja. | |
Man schreibt Berlin auf, denke ich, indem man es aufschreibt. Ich steige | |
aus und treffe eine Kollegin. „Ich bin müde“, sage ich. „Mein Onkel“, … | |
sie, „hat früher bei einer Bank gearbeitet. Da gab’s den Schladi und den | |
Schlado, den scheißlangen Dienstag und den scheißlangen Donnerstag. Aber | |
mit Freitag funktioniert das nicht gut.“ Björn Kuhligk | |
2 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Björn Kuhligk | |
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