# taz.de -- Abschiebung aus Bayern: Im Dauerkampf gegen die Behörden | |
> Der blinde Syrer Mheddin Saho dürfte an der Münchner Uni studieren – doch | |
> ihm droht die Abschiebung nach Spanien. | |
Bild: Mheddin Saho mit seinen Gasteltern Gerhard und Gisela Zierer | |
Mheddin Saho hat eine klare Vision: Er will daran mitarbeiten, | |
international bessere Lehrmethoden für den Fremdsprachenerwerb bei | |
Sehbehinderten zu entwickeln. Seit wenigen Monaten lebt der seit seiner | |
Geburt blinde Syrer in einer niederbayerischen Ortschaft fernab jeder | |
Zuganbindung, und schon ist sein Deutsch mehr als passabel. Als nächsten | |
Schritt auf seinem Weg stellt sich der 25-jährige aus Idlib einen Master in | |
English Studies an der Ludwig Maximilian Universität München vor. Eine | |
Zusage für den Studienplatz hat er bereits. | |
Allerdings hat Saho mit einer besonderen Barriere zu kämpfen, die ihm den | |
Zugang zum Bildungssystem erschwert: Die bayerischen Behörden wollen ihn | |
nach Spanien abschieben, denn über Spanien reiste er in Deutschland ein. Am | |
22. Juli wurde Saho von vier Beamten aus Rottenburg abgeholt und in einen | |
Flieger nach Barcelona verbracht. Er bekam Panik. Der Pilot weigerte sich, | |
ihn mitzunehmen. | |
Die nächsten vier Tage verbrachte Saho in Abschiebegewahrsam. Die | |
Rottenburger Familie Zierer, die ihn betreut, intervenierte bei einem | |
Nachbarn, dem bayerischen Vize-Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger von den | |
Freien Wählern. Aktuell lebt der junge Syrer mit einer Duldung bei den | |
Zierers. Doch die erneute Abschiebung droht jeden Augenblick. Rechtsanwalt | |
Thomas Oberhäuser bezweifelt, dass die vom Europäischen Gerichtshof | |
festgelegten Standards, insbesondere bezüglich einer Unterkunft für | |
hilfsbedürftige Personen, in Spanien erfüllt werden. Es bestehe die Gefahr, | |
dass die physische oder psychische Gesundheit seines blinden Mandanten | |
beeinträchtigt werde. | |
Auf Hilfe sei Saho extrem angewiesen, sagt Oberkirchenrat Michael Martin | |
von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. „In Spanien kennt er | |
niemanden, wäre als Blinder hilflos, allein und orientierungslos“, schrieb | |
Martin am 25.07. per E-Mail an den bayerischen Innenminister Joachim | |
Herrmann (CSU). Er bat den Minister, sich dafür einzusetzen, „dass es eine | |
Perspektive für diesen Geflüchteten aus Syrien gibt“. Aus dem | |
Innenministerium heißt es nur, Herrmann habe das Schreiben noch nicht | |
beantwortet. | |
## Vorsichtige Schritte ins Freie | |
Bisher hat Mheddin Saho seine Geschichte selbst gemacht. Mit 20 Jahren | |
verließ er Idlib, um in Ankara zu studieren. Er bekam 2014 einen | |
Studienplatz für Anglistik an der Elitehochschule Middle Eastern Technical | |
University (METU). Eingereist war er über die offene Grenze, denn eine | |
Visumspflicht für Syrer*innen führte die Türkei erst 2016 infolge des | |
EU-Flüchtlingsdeals ein. „Vor seiner Einreise hat er mich ein paarmal von | |
Syrien aus angerufen“, erinnert sich İpek Demirok, die zu der Zeit im | |
Behindertenbüro der METU arbeitete. | |
„Ich musste ihn erst davon überzeugen, dass er sich mit unserer | |
Unterstützung auf dem Campus zurechtfinden könne, bevor er Syrien verließ | |
und nach Ankara kam.“ Dann gefiel es Muhittin Saho gut auf dem bewaldeten | |
Campus mit seinen traditionell progressiven Studierenden. Englisch konnte | |
er schon, Türkisch habe er innerhalb von vier Monaten gelernt, sagt | |
Demirok. | |
Doch außerhalb des Campus war das Leben schwierig, nicht nur aufgrund des | |
gefährlichen Verkehrschaos. „Taxifahrer fragten immer zuerst, wo ich | |
herkam. Wenn ich sagte, ich sei aus Syrien, wurde mir vorgeworfen, ich | |
würde mein Vaterland verraten, weil ich nicht dort kämpfe“, erzählt Saho. | |
„Ich konnte und wollte nicht in einer Gesellschaft leben, in der | |
[1][Hassdiskurse gegen Menschen] wie mich so stark geworden sind: Ich bin | |
Christ, ich bin blind, ich bin Syrer.“ | |
Im Januar 2019 machte Saho seinen Abschluss mit Bestnote, unterhalb der | |
Regelstudienzeit. Mit dem Abschluss erlosch das Studierendenvisum. | |
„Konservative Syrer, die die AKP unterstützen, bekamen zum Teil die | |
Staatsbürgerschaft“, sagt Saho. Er war verunsichert, weil sein eigener | |
Antrag auf Einbürgerung lange nicht bearbeitet wurde. Das sei nicht | |
ungewöhnlich, sagt eine Mitgrationsrechtsexpertin in Ankara. Denn die | |
letzte Stufe des Einbürgerungsverfahrens sei ein Hintergrundcheck. „Viele | |
meiner Bekannten scheitern daran“, sagt die Mitarbeiterin eines | |
internationalen Hilfswerkes, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen | |
möchte. „Wenn jemand mal irgendwo eine politische Meinung geäußert hat, | |
wird das Verfahren einfach über Jahre verschleppt.“ | |
Die METU, die Sahos Lebensmittelpunkt bildete, ist als renitente Hochburg | |
linker Opposition der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. Mit | |
polizeilichen, politischen und baulichen Mitteln wird derzeit versucht, den | |
[2][Campus unter AKP-Kontrolle zu bringen]. Es waren nun studentische | |
Aktivist*innen von der METU, die Sahos Abschiebehaft in Niederbayern übers | |
Internet an die Öffentlichkeit brachten – parallel zu den Bemühungen der | |
Zierers und einer christlichen Basisinitiative in Bayern, die Engagement | |
für Geflüchtete auf dem Land koordiniert. | |
## Keine Sympathien für Autokraten | |
Stephan Reichel von Matteo Asyl ist stolz, dass er bereits in über 800 | |
Fällen helfen konnte. Oft sei das Engagement christlich geprägt, aber | |
geholfen werde allen Menschen und ohne Gegenleistung. „Je ländlicher, desto | |
offener“, sagt Reichel. Die Empathie der Landbevölkerung stehe oftmals im | |
Gegensatz zur Politik der bayerischen Regierungspartei. | |
Mheddin Saho hat große Sympathien für die oppositionelle Haltung seiner | |
Freund*innen in der Türkei. „Viele Syrer*innen haben den Fehler gemacht, | |
Erdogan unkritisch als Held zu sehen. Dabei ist er ein Demagoge und | |
Autokrat“, sagt Saho. „Er hat die syrischen Geflüchteten als | |
Verhandlungsmasse benutzt, um die EU zu erpressen, während er im Inland so | |
tut, als zahle die türkische Regierung wahnsinnig viel Geld für die | |
Syrer*innen.“ | |
Derzeit eskaliert die rassistische Stimmung gegen Syrer*innen in der | |
türkischen Bevölkerung, während Erdoğans Zentralregierung und Istanbuls | |
neuer Bürgermeister İmamoğlu sich [3][in einer Sache einig] sind: Die | |
Syrer*innen müssen „zurück in ihre Heimat“. In den letzten Wochen waren | |
Tausende von Geflüchteten in den Straßen Istanbuls von der Polizei | |
aufgegriffen und in entlegene Provinzen verbracht worden. Darunter seien | |
auch viele Schwerbehinderte, auf deren Bedürfnisse die Behörden keinerlei | |
Rücksicht nehmen, sagt die NGO-Mitarbeiterin. | |
Um in der Türkei zu bleiben, hätte Saho sich für den unsicheren | |
vorübergehenden Schutzstatus registrieren lassen müssen, den die Türkei | |
anstelle des Flüchtlingsstatus an Syrer*innen vergibt. Damit hätte er kein | |
Recht gehabt, in Ankara zu bleiben. Zwar bekommen Schwerbehinderte mit | |
Schutzstatus eine gewisse staatliche Unterstützung, allerdings dürfen sie | |
nicht die Provinz verlassen, in der sie registriert sind. Mit Arbeit ist | |
dort nicht zu rechnen. „Selbst unsere türkischen Absolvent*innen mit | |
Beeinträchtigungen finden auf dem freien Markt keine Arbeit, sondern | |
höchstens in Behörden, die sich auf eine Behindertenquote verpflichtet | |
haben“, sagt Demirok. | |
## „Wenn man unter etwas leidet, muss man es ändern“ | |
Saho bewarb sich schließlich von Ankara aus für ein Erasmus-Studium im | |
spanischen Bilbao. Den Aufenthalt musste er nach zwei Wochen abbrechen, da | |
überhaupt keine Infrastruktur und Unterstützung für Blinde vorhanden waren. | |
Saho kehrte nach Ankara zurück – und reiste dann über Spanien nach | |
Deutschland. Hier stellte er im Februar 2019 einen Asylantrag, bewarb sich | |
an der LMU und bekam seine Zusage. Nun aber wird Saho sein kurzer | |
Spanien-Aufenthalt zum Verhängnis: Denn laut EU-Verordnung ist derjenige | |
europäische Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, den | |
ein Geflüchteter zuerst betrat. | |
Bestürzt reagierte Enno Ruge vom Institut für Englische Philologie der LMU | |
auf die Nachricht von der drohenden Abschiebung Sahos. Er hatte mit einer | |
Kollegin das Auswahlgespräch geführt. Beide seien „außerordentlich | |
beeindruckt“ gewesen von der Zielstrebigkeit und vom guten Englisch des | |
Bewerbers. Saho habe „überzeugend dargelegt“, wie er das Masterstudium | |
nutzen wolle, um „das Erlernen von Fremdsprachen für sehbehinderte Menschen | |
zu erleichtern“ und wäre eine „Bereicherung“ für den Studiengang. | |
Saho war auf die LMU gestoßen, weil die Uni im Bereich Sprachlerndidaktik | |
sehr gut aufgestellt ist. Forschung, die hier betrieben wird, errege | |
international ein hohes Aufsehen. Und Saho verweist auf die große Lücke, | |
die es bei der Methodenforschung zum Spracherwerb für Sehbehinderte gibt – | |
und das sei genau der Bereich, in dem er sich spezialisieren wolle. | |
„Wenn man unter etwas leidet, muss man es ändern“, sagt Saho zu seiner | |
Motivation. „Ich musste einen Französischkurs abbrechen, weil der Lehrer | |
nicht verstanden hat, dass ich nicht folgen kann, wenn er alles an die | |
Tafel schreibt, statt elektronische Ressourcen zur Verfügung zu stellen, | |
mit denen ich auch lernen kann. Stattdessen habe ich jetzt Deutsch | |
gelernt.“ | |
Ob Sahos Kraft auch ausreicht, um die Entscheidung des Verwaltungsgerichts | |
Regensburg zu ändern, das „keine erkennbaren“ Hindernisse für eine | |
Abschiebung sieht, ist unklar. Zwischen Angst und Selbstvertrauen verbringt | |
er seine Tage und kämpft für eine barrierefreiere Welt. | |
12 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5615597&searchterm=Yahya | |
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5611797&searchterm=ODT%C3%9C | |
[3] https://gazete.taz.de/article/?article=!5615172&searchterm=Syrer | |
## AUTOREN | |
Oliver Kontny | |
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