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# taz.de -- debatte: Ein gerechtes Abi für alle?
> Die Forderung nach einem Zentralabitur geht an den zentralen Problemen
> unseres Bildungssystems vorbei: Fachkräftemangel und soziale Ausgrenzung
Bundesweit einheitliche Abiturprüfungen einführen! Das forderte unlängst
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Vergleichbarkeit von Abschlüssen
ist aber kein Wert an sich. Hinter Karliczeks Vorstoß steckt im Kern eine
Gerechtigkeitsfrage: Wie kann Deutschland Schüler*innen einen gerechten
Zugang zu universitärer Bildung gewährleisten? Doch ein Zentralabi löst
weder das Problem des derzeitigen, zugegebenermaßen ungerechten
Universitätszugangs über den Numerus Clausus (NC). Noch geht er auf die
eigentlichen, viel drängenderen Gerechtigkeitsfragen unseres
Bildungssystems ein.
Die Idee einer komplett gerechten Vergleichbarkeit der Abiturnoten ist eine
Illusion. Sie verspricht Schüler*innen und der Gesellschaft etwas, das
nicht zu halten ist. Schließlich setzt sich die Abiturnote nur zu einem
Teil aus den Abiturprüfungen zusammen. Ungefähr zwei Drittel der Abi-Punkte
stammen aus den über zwei Jahren erworbenen Zeugnisnoten, und damit aus den
mündlichen und schriftlichen Bewertungen einzelner Lehrkräfte. Je nach
Lehrer*in kann es dabei zu sehr unterschiedlichen Benotungen kommen, wie
verschiedene Studien belegt haben. Den Faktor Mensch werden wir nicht los.
Und das ist gut so. Denn auch wenn der Hype um die statistische Messbarkeit
uns manchmal glauben machen möchte, dass man alles in Zahlen fassen und
vergleichen kann, lassen sich viele Bereiche von schulischer Bildung nicht
quantifizieren.
Weiterhin stellt sich die Frage, welche Idee hinter dem derzeitigen
NC-Verfahren steht, das nach Karliczeks Idee ja beibehalten werden soll.
Wird ein Abiturient aus Heidelberg ein besserer Arzt, weil er in der dann
bundesweiten zentralen Matheklausur eine Zwei plus geschrieben hat, sein
Altersgenosse aus Hamburg aber nur eine Zwei minus? Hier wäre es doch
gesellschaftlich sinnvoller, grundlegend über ein anderes Auswahlverfahren
nachzudenken, bei dem Hochschulen sich, nach bestimmten Vorgaben, einen
größeren Teil ihrer Studierenden ohne Blick auf den NC aussuchen. Hierfür
bräuchten die Universitäten allerdings mehr Personal. Frau Karliczek strebt
mit ihrem Vorschlag also keine gerechtere, sondern eine kostengünstige und
nur vermeintliche „Lösung“ zum Hochschulzugang an.
Viel gravierender ist allerdings, dass es beim Thema Bildungsgerechtigkeit
in Deutschland größere Baustellen gibt, bei denen, trotz des föderalen
Bildungssystems, eine Steuerung auf nationaler Ebene notwendig wäre. Der
Bildungsbericht 2018 hat auf zwei große Probleme hingewiesen: den
Fachkräftemangel und die weiterhin bestehende soziale Ausgrenzung im
Bildungsbereich.
Eine ausreichende Zahl an gut ausgebildeten Lehrkräften, Erzieher*innen und
weiteren pädagogischen Beschäftigten ist der Grundpfeiler eines
funktionierenden und gerechten Bildungssystems. Doch dieser Pfeiler wackelt
gerade bedenklich. Zukünftig wird deutschlandweit sowohl an Schulen als
auch im vorschulischen Bereich eine riesige Zahl von Fachkräften benötigt.
Der Bildungsbericht geht von rund 600.000 zusätzlich benötigten Plätzen in
der Kindertagesbetreuung bis 2025 aus, und damit von sehr vielen fehlenden
Erzieher*innen.
## Wettstreit um Lehrkräfte
Bereits jetzt ist der Fachkräftemangel deutlich spürbar: Zum Start des
neuen Schuljahres fehlen bundesweit mehrere Tausend Lehrer*innen. Am
schlimmsten ist es in Berlin und Sachsen. Doch auch in anderen
Bundesländern wie in Baden-Württemberg fehlen immer mehr Pädagog*innen.
Neben guten Quereinstiegsprogrammen – die sowohl den Anspruch der
Schüler*innen auf guten Unterricht als auch die Situation der neuen
Kolleg*innen berücksichtigen – müssen möglichst schnell neue Ausbildungs-
und Studienplätze geschaffen werden. Bisher sucht aber jedes Bundesland
Lösungen für sich. Oft gibt es sogar einen Wettstreit zwischen den
einzelnen Bundesländern um ausgebildete Lehrkräfte. Gerade hier bräuchte es
einen Vorstoß in Richtung einer nationalen Steuerung, um zumindest die
personellen Grundlagen für Chancengerechtigkeit zu schaffen.
Denn der Lehrkräftemangel ist auch eine Gerechtigkeitsfrage. Er hat eine
soziale Dimension. Schulen mit einem vermeintlich schlechten Ruf – oftmals
sozial segregierte Schulen – haben schon heute die größten Probleme,
Lehrkräfte zu finden. Unter dieser Personalsituation leiden dann vor allem
Schüler*innen, die in Sozialräumen groß werden, die ihnen oftmals nicht
genügend Unterstützung bieten.
Und gerade sie hatten doch schon in Zeiten vor dem Personalmangel die
geringsten Chancen, ihr Abitur zu machen und den Zugang zu höherer Bildung
zu erlangen. Schließlich ist der Universitätszugang in Deutschland immer
noch so stark mit der sozialen Herkunft verbunden wie in kaum einem anderen
OECD-Land. Mit dem zunehmenden Lehrkräftemangel verschärft sich diese
Bildungsungerechtigkeit weiter. Dabei bräuchten wir doch gerade an
segregierten Schulen genau das Gegenteil: eine deutlich bessere
Betreuungsrelation und gute Unterstützungsstrukturen.
Wenn die Bundesbildungsministerin den Zugang zu deutschen Universitäten
gerechter gestalten will, wäre das zu begrüßen. Aber dazu müsste sie die
grundlegenden Gerechtigkeitsprobleme in unserem Bildungssystem angehen.
Eine quantitativ und qualitativ bessere Ausbildung von Lehrkräften und
anderen pädagogischen Fachkräften in allen Bundesländern! Endlich eine
ernsthafte und nicht aufgeregt-stigmatisierende Debatte über sozial
segregierte Schulen! Und Vorschläge, um diese Schulen sofort zu
unterstützen und die Segregation mittelfristig ganz abzuschaffen!
Mit diesem Ansatz würde deutlich mehr für einen gerechteren Zugang zu
deutschen Hochschulen erreicht als durch die Einführung zentraler
Abiturprüfungen.
16 Aug 2019
## AUTOREN
Philipp Dehne
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