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# taz.de -- Spätsommer-Trance am Tempelhofer Feld
> Die Werkstatt der Kulturen veranstaltet zum zweiten Mal das 2018
> gestartete Gnaoua Festival Berlin. Drei Tage lang wird die Musik- und
> Tanzkultur aus dem Norden Afrikas mit Konzerten und Workshops mit mehr
> als 20 Musiker*innen gefeiert
Bild: Asmaa Hanzaoui & Bnat Timbouktou, Konzert am Samstag um 20 Uhr
Von Katrin Wilke
Bis heute etymologisch nicht vollends geklärt, bezeichnet Gnawa oder Gnaoua
eine ethnische Minderheit im Maghreb, vor allem in Marokko, sowie deren
Musiktradition. Ihre globale Strahlkraft, die auch Madonna und fünfzig
Jahre zuvor Jimi Hendrix erfasste, ist bei diesem in Europa einzigartigen
Event, dem Gnaoua-Festival Berlin, lebhaft zu erfahren.
Die heute in Marokko, teils auch in Algerien kultivierte Gnaoua-Musik mit
all ihren spirituellen Ritualen und Praktiken ist weitaus mehr als ein
musikalisches Phänomen. Sollte sie im Dezember von der Unesco zum
immateriellen Weltkulturerbe deklariert werden, wäre dies aus Sicht des
Festivalkurators und Oud-Spielers Alaa Zouiten aus Marokko allerhöchste
Zeit.
In der Heimat des Wahlberliners landeten die Vorfahren der „schwarzen
Maghrebiner“, der sogenannten Gnaouis, ab dem 11. Jahrhundert: von
Nordafrikanern, vorneweg Marokkanern verschleppte Sklaven aus der
westafrikanischen Subsahara, die aus heutigen Ländern wie Mali,
Mauretanien, Senegal und Niger sowie aus dem Westsudan stammten. Deren
forcierte „Integration“ am neuen Ort brachte – wie so oft in der
Sklavereigeschichte – auch hybride reichhaltige Kultur mit sich, die heute
Musiker und Aficionados zwischen Essaouira, der marokkanischen
Gnaoua-Hochburg, Paris, London oder Berlin nicht missen wollen. Jene in
volksislamischen Sufibruderschaften zusammengeschlossenen Sklaven
zelebrierten ihre spirituell-musikalischen, nicht zuletzt der Heilung
dienenden Kulte, wobei die diversen eigenen Einflüsse um die der Araber,
Juden und Berber vor Ort erweitert wurden.
## Klanglich archaisch
Die bis heute optisch wie klanglich archaisch anmutende Gnaoua-Kultur
scheint gleichermaßen geschlossen, unantastbar wie weltgewandt in ihrer
markanten vokalen und instrumentalen Gestaltung (Gimbri,
Metallkastagnetten). Von der geradezu wundersamen Kompatibilität dieser
Musik mit teils recht anderen oder zumindest anscheinend entlegenen
Traditionen und Genres wie dem Jazz, Rock oder Pop kann man sich
alljährlich beim Gnaoua World Music Festival in Essaouira überzeugen. Und
nun zum wiederholten Male in Berlin!
Zum Beispiel beim nicht nur optisch mit Hendrix zu assoziierenden Mehdi
Qamoum aka Medicament aus Agadir. Die kleine, feine „Essaouira-Filiale“ an
der Spree musste sich räumlich vergrößern nach dem riesigen Ansturm im
vergangenen Jahr – besonders durch ein arabisch-afrikanisches Berliner
Publikum – auf die zumeist kostenlosen oder auf Spendenbasis angebotenen
Konzerte und Workshops in der Werkstatt der Kulturen. Deren Chefin, die
Afrodeutsche Philippa Ebéné, erinnert bei der Gelegenheit gerne an die
besondere Wichtigkeit einer solchen Veranstaltung inmitten der vielleicht
nicht jedem geläufigen „UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft“
(2015 bis 2024).
Mehr als 20 Musiker aus dem direkten, teils auch ferneren Gnaoua-Kontext,
aus Marokko, England, Belgien und Deutschland kommen in Berlin zusammen.
Gestern begann schon mal die Masterclass von Majid Bekkas und Aly Keïta.
Der singende Gimbri- und Oud-Spieler aus Marokko – schon 2018 zu Gast –
sowie der in Berlin lebende ivorische Balafon-Spieler gehören zu den Stars
der zwischen Jazz und World agierenden Szene. Entsprechend bunt wird auch
die Schar Berliner Profimusiker sein, die sich bei diesen Meistern in die
zweitägige Lehre begeben.
Dann wird das Festival offiziell mit einer Parade am Donnerstagnachmittag
eröffnet, die diesmal nicht vom Hermannplatz, sondern vom weniger
hibbeligen Südstern aus startet. Mit dabei sämtliche beteiligte Musiker wie
auch Musikerinnen, denn 2019 wird erstmals eins der nicht allzu vielen
Gnaoua-Frauenensembles auftreten: Der Auftritt der singenden
Gimbri-Spielerin Asmâa Hamzaoui und ihres Quartetts Bnat Timbouktou aus
Casablanca am Samstag wird auch gleichzeitig ihr Albumrelease und
sicherlich ein Festivalhöhepunkt mit Seltenheitswert. Sind doch
Gnaoua-Sängerinnen und Gnaoua-Instrumentalistinnen eine kleine, langsam
aber sicher wachsende Minderheit in dieser musikalischen Männerdomäne.
Traditionell sind Frauen allein für die Betreuung der Zeremonien zuständig,
dort gar unabkömmlich. Das zentrale musikalisch-spirituelle Ritual, die
ganze Nächte dauernde Lila, wird auch in Berlin abgehalten. Nach dem
Konzert der Gnaoua-Frauen wird sich vermutlich eine regelrechte
Menschenkarawane in Bewegung setzen hin zum Cabuwazi-Zelt am Columbiadamm,
um ab 22 Uhr für sechs Stunden dieser besonderen Session beizuwohnen. Diese
wird dann ebenfalls von einer solchen anerkannten Zeremonienmeisterin, der
Mqaddma Khaddouj Hadidi aus Essaouira, zusammen mit ihrem Ehemann
gestaltet, dem renommierten Mâalem Mokhtar Gania und weiteren sechs
Musikern.
Und wenn am Ende schon so langsam die Berliner Sonntagmorgensonne über dem
Zelt am Tempelhofer Feld aufgeht, dann liegt auch der Strand von Essaouira
gefühlt gleich dahinter. Angefüllt mit Klängen und Eindrücken,
schlaftrunken oder aufgekratzt, bestenfalls spirituell aufgeräumter wird
wohl jeder auf seinem Heimweg auf ein „da capo“ 2020 hoffen. Und
unweigerlich auf die damit verbundene Existenz der derzeit auf wackligem
Fundament stehenden, verdienstvollen Werkstatt der Kulturen.
15 Aug 2019
## AUTOREN
Katrin Wilke
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