# taz.de -- Berlin, das Mumbai von Deutschland | |
> Kennith Rosario schreibt eigentlich für The Hindu Newspaper und hat in | |
> der taz-Redaktion mitgearbeitet. Für ihn zeigt sich beim Feiern, warum | |
> Berlin das deutsche Mumbai ist | |
Bild: Die Party ist politisch: Der 41. CSD in Berlin | |
Von Kennith Rosario | |
In Berlin muss man auffallen, um nicht aufzufallen. Das ist die | |
Hauptbotschaft, die mir diese Stadt entgegengeschrien hat – mit ihren | |
Alternativen zu einer Alternativkultur, mit den After-Partys nach | |
After-Partys, der kollektiven Verachtung für Kapitalismus und | |
Gentrifizierung, mit Secondhand- und Upcycling-Kleidungsgeschäften und der | |
Versessenheit, Wohnungen auch kürzer als eine Woche unterzuvermieten. | |
Auf den ersten Blick fühlt es sich so an wie Mumbai. Insofern fühlte ich | |
mich hier schnell zu Hause. Genauso wenig, wie Mumbai nämlich Indien ist, | |
ist Berlin nicht Deutschland. Beide Städte lieben die Rebellion. Während in | |
Berlin viele Bewohner aktiv protestieren auf Versammlungen, mit Graffiti, | |
Aufklebern und einer generellen Gleichgültigkeit roten Ampeln gegenüber, | |
liegt Mumbais Rebellion eher darin, dass Reiche und Arme in direkter | |
Nachbarschaft leben. | |
Aber ein Unterschied hat mich insbesondere als Kulturautor und Kritiker | |
beeindruckt: die starke Präsenz von Politik in den Künsten und das | |
Selbstverständnis vieler Clubs als Kampfplatz für Interessen. | |
An meinem ersten Wochenende in der Stadt ging ich in das SchwuZ. Der Club | |
ist bekannt für seine inklusive Türpolitik für queere Geflüchtete. Vorm | |
Tanzen gab es allerdings zunächst eine Podiumsdiskussion zur Integration | |
von LGBTQI-Personen mit Migrationsgeschichte – vorher zeigte das SchwuZ | |
noch eine Doku. Während der ernsthaften Veranstaltung wurden eindrückliche | |
Geschichten erzählt – und gleichzeitig wummerte der Bass aus dem Raum | |
nebenan. Und kaum dass die Diskussion beendet war, wurden Ernsthaftigkeit | |
und Stühle schnellstmöglich weggeräumt und die Bar geöffnet. Schon war der | |
eben noch politische Raum bereitet für eine Nacht voller Ausschweifungen. | |
## Eine Stadt mit Meinungen | |
An einem anderen Wochenende besuchte ich im SO 36 eine Drag-Show namens | |
„Queens Against Borders“ – eine Soli-Veranstaltung für | |
Transgender-Geflüchtete. Vor der Aufführung gab es eine Podiumsdiskussion | |
zu Klimawandel und Migration – direkt gefolgt von Auftritten von | |
Tänzer*innen und Sänger*innen aus dem Irak, Syrien, Israel und anderen | |
Ländern. Die Mischung von Politik, Protesten und Party – besonders in der | |
queeren Szene – fasziniert mich an der deutschen Hauptstadt am meisten. So | |
ist es auch nur wenig überraschend, dass viele Clubs in Berlin sich aus | |
Leerstand entwickelten und besetzt wurden – Rebellion funktionierte hier | |
über das Feiern. | |
Als Journalist, der über Kino, Kunst und Kultur schreibt, wird mir häufig | |
der Begriff Unterhaltungsjournalismus vorgehalten. In Mumbai, wo mit | |
Bollywood eine der größten Filmindustrien der Welt gedeiht, ist es leicht, | |
Kino, Theater, Musik und anderes als bloße Unterhaltung abzutun. Dort zu | |
schreiben, dass es Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Politik, | |
Kunst, Kultur und Gesellschaft gibt, ist eine Herausforderung – selbst | |
innerhalb der Medienlandschaft. | |
Dabei darf ein gutes Kunstwerk beides können: fesselnd und unterhaltsam | |
sein. Gerade die Berliner Kulturlandschaft zeigt, dass Politik und | |
Unterhaltung sich nicht ausschließen. Und mit Unterhaltung meine ich nicht | |
Lachnummern von in Fettnäpfchen tretende Politikern, sondern exakt die Art, | |
wie Berlins Nachtleben auf drängende Probleme der Welt, Europas und | |
Deutschlands reagiert. | |
Die Politisierung beschränkt sich dabei keineswegs nur auf Clubs, wie mir | |
bereits mein erster Besuch in dieser Stadt zeigte. 2018 war ich schon | |
einmal hier im Rahmen des „Berlinale Talents Programme“ – knapp ein Jahr | |
nachdem #MeToo in Hollywood einschlug. | |
Die kuratorische Sensibilität der Berlinale reflektierte die | |
Sexismusdebatte mit Filmen zu Körperpolitik – vor allem im | |
Panorama-Bereich. Besonders der Standort eines Festivals spielt immer eine | |
wichtige Rolle dabei, wenn es darum geht, den Charakter und den Geschmack | |
zu entwickeln. Ich glaube, dass der politische Diskurs bei der Berlinale | |
viel mit Berlin und seiner manchmal unverschämt direkten Art zu tun hat. | |
Dieses Bewusstsein war auch beim 41. Christopher Street Day zu spüren, wo | |
man Schilder mit den Aufschriften „fags against fascism“ oder „queers for | |
climate change“ sehen konnte. Ich war auf dem Wagen der Berliner Aids-Hilfe | |
und konnte von dort aus auf ein unendliches Meer von Menschen blicken, die | |
am CSD teilnahmen. Während Homosexualität in Deutschland vor 25 Jahren | |
endgültig entkriminalisiert wurde, hat das Oberste Gericht in Indien dies | |
erst vor rund einem Jahr getan. Indien hat noch einen langen Weg vor sich, | |
aber die Berlin Pride hat mich daran erinnert, dass Veränderungen nicht | |
über Nacht eintreten – vor allem mit Blick auf die turbulente Vorgeschichte | |
von Rechten queerer Menschen in Deutschland. | |
Natürlich gab es auch Kritik: Dem CSD wurden Kommerzialisierung und | |
fehlende Inklusivität vorgeworfen, ebenso eine klare politische Botschaft | |
wurde vermisst. Es gibt sicherlich noch einiges zu tun. Aber aktiver | |
Dissens und allein das Vorhandensein einer alternativen Parade zum CSD sind | |
ein gesundes Zeichen dafür, dass viele offen bleiben für kritische | |
Reflexion. | |
Für mich ist Berlin eine Stadt mit Meinungen. Aber es ist auch eine | |
Metropole im konstanten Zustand der Metamorphose. Angesichts der sich | |
schnell verändernden Welt hält Berlin an seinen Werten fest und gibt nicht | |
kampflos auf. Natürlich hat die Vergangenheit der Stadt und die Geschichte | |
dieses Landes einen großen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein, aber | |
Berlin 2019 hat dazu noch mal eine ganz eigene Geschmacksrichtung. Die | |
Mischung aus beidem macht einfach süchtig. | |
13 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Kennith Rosario | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |