# taz.de -- ImSchattender Mauer | |
> Der Mauerbau im August 1961 hat nicht nur Berlin in zwei Teile geteilt, | |
> sondern auch das Leben der Klempins – in ein Vorher und Nachher | |
Bild: Günter und Elvi Klempin in ihrem Wohnzimmer. Seit über 60 Jahren leben … | |
Von Lina Verschwele (Text und Fotos) | |
Die Klempins sind Westberliner. Sie reisten früher um die halbe Welt, nur | |
seine Schwester im Ostteil der Stadt konnte Günter Klempin wegen der | |
deutschen Teilung nicht einfach so besuchen. In der Wohnung des Ehepaars | |
ist die kürzlich verstorbene Schwester immer noch präsent. | |
Draußen: Im Treppenhaus des Mietshauses im Berliner Stadtteil Wedding steht | |
zwischen dem zweiten und dritten Stock ein Stuhl. Er ist beschriftet mit | |
dem Namen Klempin. Hier machen die beiden 90-Jährigen Rast beim Aufstieg in | |
den fünften Stock. | |
Drinnen: An den Wänden hängen Souvenirteller, Urkunden und Bilder, die | |
Günter Klempins Schwester gemalt hat. Die Möbel sind aus hellem Holz, die | |
Sitzgarnitur ist grau. In der Küche steht Kirschsuppe für das Mittagessen | |
bereit. | |
Der Balkon: Die Klempins haben sich an diesem heißen Sommertag auf ihren | |
Balkon geflüchtet, wo ein leichter Wind weht. Alle drei Minuten donnert ein | |
Flugzeug über das Haus, im Anflug auf den Flughafen Tegel. Günter Klempin | |
spricht trotzdem weiter. Seit über 60 Jahren wohnen sie in dieser Wohnung. | |
Die erste Elvira: Günter Klempin ist acht Jahre alt, als seine Schwester | |
Elvira 1936 geboren wird. Sie geht noch nicht zur Schule, als er schon | |
„kinderlandverschickt“ wird. Einen Teil des Kriegs verbringt er in | |
Österreich und der Slowakei. Zurück in Berlin, ist er 1945 plötzlich alt | |
genug für den Krieg. Die Nazis schicken den 16-Jährigen nach Italien, wo er | |
kampflos die letzten Kriegstage verbringt. Im Sommer 45 kehrt er zurück | |
nach Berlin. Vor seinem Elternhaus im Osten der Stadt steht seine | |
Schwester– und rennt davon, weil sie ihn nicht erkennt. | |
Die zweite Elvira: An seinem 18. Geburtstag lernt Günter Klempin seine Frau | |
kennen. Sie heißt wie seine Schwester Elvira. Er nennt sie Elvi. Die beiden | |
treffen sich auf einem Dorffest in Brandenburg. Nach vier Jahren „im | |
Konkubinat“ heiraten sie. | |
Ostberlin: Nur kurz lebt Günter Klempin noch mit seiner Familie in | |
Ostberlin. Er ist nun Polizist, „eher aus Zufall“. 1948 schafft er | |
Dokumente aus dem Osten auf eine neue Polizeiwache in Westberlin. Fortan | |
darf er den Ostsektor nicht mehr betreten. Sein ohnehin kühles Verhältnis | |
zur Mutter wird dadurch noch distanzierter. Sie treffen sich vor allem zu | |
Geburtstagen. Nahm sie ihm übel, dass er ging? Er glaubt es, ja, irgendwie. | |
Sooft sie können, schicken die Klempins seiner Mutter und der Schwester | |
später Pakete. | |
Fernweh: Als in Ostberlin der Aufstand am 17. Juni niedergeschlagen wird, | |
sind sie gerade auf dem Rückweg von einer ihrer ersten Auslandsreisen nach | |
Österreich. Beide befürchten, nicht mehr nach Berlin zurückkehren zu | |
können. | |
Reiseavantgarde: Später zählen die Klempins zur Avantgarde des | |
Anhaltertourismus. „Unsere Taschen waren so klein, sie würden heute gerade | |
für unsere Pillen reichen“, sagt er. Fast jedes Jahr fahren sie nach | |
Italien oder Österreich. Aber sie kommen auch weiter: zum Kilimandscharo, | |
nach China oder Mexiko. Zu Hause verbringen sie Stunden bei Diaabenden. | |
Dackel Susi: Mit dabei auf ihren Reisen nach Italien oder Österreich ist | |
auch immer Dackel Susi. Kinder haben die Klempins nicht. | |
1960: Ein Jahr vor dem Mauerbau will Günter Klempin seiner Schwester einen | |
westdeutschen Pass besorgen. Sie lehnt ab, sie möchte die Mutter nicht | |
alleinlassen. „Erst war meine Schwester das Kind meiner Mutter, dann war es | |
umgekehrt“, sagt er. Bis zum Tod 1996 betreut sie die Mutter allein, neben | |
ihrer Vollzeitstelle als Expedientin, kaufmännische Angestellte. | |
Die Trennung: Am 13. August 1961 stehen Günter und Elvi Klempin vor der | |
Mauer, die sich über Nacht durch die Stadt gefressen hat. Nur wenige | |
Hundert Meter trennen ihr Wohnhaus vom „antifaschistischen Schutzwall“, wie | |
das graue Ungetüm im DDR-Sprech heißt. Wütend seien sie gewesen, erzählt | |
Elvi Klempin. Er fürchtet, dass er seine Familie nie wieder sieht. Tagelang | |
ist Stille, es gibt ja kein Telefon. Bis zur Passierscheinregelung können | |
sie seine Familie nicht sehen. Als es so weit ist, stehen sie einen Tag und | |
eine Nacht für den Schein an. | |
Besuche: Bei Besuchen in Ostberlin ist meist die große Familie mit Onkeln | |
und Tanten da. „So zwanzig Leute.“ Sie sitzen am Kaffeetisch und reden über | |
Alltägliches. Von ihren Reisen erzählt das Paar nichts. Sie wollen | |
niemanden neidisch machen. | |
Grenzkontrolle: Wenn die Klempins die Grenze passierten, sprach nur sie. | |
Ihr Mann habe vor den Grenzern „immer einen Blasierten gemacht“. Wenn sie | |
auf Reisen von Berlin nach Westen die Transitstrecke hinter sich lassen, | |
stecken sie sich eine Zigarette an. „Jetzt beginnt der Urlaub“, sagte er | |
dann. | |
Hausfrau: 1970 kündigt Elvi Klempin ihre Arbeit in einem Miederwarenladen | |
und konzentriert sich ganz auf den Haushalt, die Urlaube, die Familie und | |
Susi. „Es gibt ja Frauen, die haben unterm Hausfrauendasein gelitten. Ich | |
nicht. Es war nie mein Traum, Unterwäsche zu verkaufen.“ | |
Erleichterungen: Weil die Schwester im Osten als Expedientin für das | |
kapitalistische Ausland arbeitet, bekommt sie in den 70er Jahren ein | |
Telefon. Bis heute kennt ihre Schwägerin die Nummer auswendig. Drei Minuten | |
darf ein Gespräch dauern, dann ist Schluss. | |
1989: Nach dem Mauerfall rückt die Familie im Osten wieder näher. Auf dem | |
Sterbebett verspricht Günter Klempin seiner Mutter, sich um die Schwester | |
zu kümmern: „Das habe ich auch getan.“ Die Klempins reisen mit ihr nach | |
Spanien und Dänemark, fliegen nach Teneriffa und Mallorca. Nur einmal | |
fahren sie zu dritt nach Ostdeutschland. Von Güstrow aus zeigt die | |
Schwester ihnen die Ostsee. | |
Die Lücke: Dabei ist auch die Schwester zu DDR-Zeiten viel unterwegs | |
gewesen. Sie kannte Moskau, Sotschi und Kiew. Vor der Wende führte sie eine | |
heimliche Beziehung zu einem Händler aus Norwegen, über Jahre trafen sie | |
sich auf konspirativen Wegen. „Vor der Wende wussten wir kaum, wie meine | |
Schwester lebt“, sagt Günter Klempin. | |
Politik: Später sprechen sie auch über Politik, aber nie über die DDR. „Was | |
sollst du dazu sagen?“, fragt Günter Klempin. „Meine Schwester hatte mit | |
dem System nicht zu tun. Was ich darüber denke, habe ich klar gesagt: dass | |
sie von Verbrechern und Geisteskranken regiert wurde.“ Mit Stolz erzählt | |
er, wie viel Verantwortung seine Schwester durch ihre Arbeit trug. Nach der | |
Wende wird sie arbeitslos. Wie viele Ostdeutsche habe sie | |
Minderwertigkeitskomplexe gehabt. Nie will sie Jutebeutel tragen, aus | |
Angst, als Ostdeutsche erkannt zu werden. | |
Abschied: Im Frühjahr 2019 reisen sie wieder zu dritt, zwei Wochen | |
Kreuzfahrt im Mittelmeer. Das letzte Bild zeigt Klempins Schwester auf | |
Zypern. Sie steht am Strand, das Meer leuchtet im Hintergrund. Am letzten | |
Abend der Reise stellt sie den gepackten Koffer auf den Flur. Dann legt sie | |
sich hin und bleibt liegen. Tod durch Herz-Kreislauf-Versagen. | |
Der Nachlass: Seither stapeln sich in Berlin Fotos – die der Schwester und | |
die eigenen. Die Klempins wollen aussortieren. „Das ganze Zeug braucht nach | |
uns niemand mehr.“ Im Nachlass finden sie Briefe des verstorbenen Vaters. | |
Auch von Freundinnen, von denen sie nichts wussten. Die vielen Reisen, die | |
Freundschaften und Elvira Klempins Erbe – da ist viel mehr, als sie | |
erwartet hatten. „Wir haben sie gar nicht so richtig gekannt“, sagt Günter | |
Klempin. | |
10 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Lina Verschwele | |
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