# taz.de -- „Ich finde es nur ehrlich, wenn Kunst aneckt“ | |
> Der Song „Das Boot ist voll“ der Züricher Band Faber warf erneut die | |
> Frage auf: Wie weit darf und soll Kunst gehen? Ein Gespräch mit dem | |
> Sänger Julian Pollina | |
Bild: Pollina, 26, polarisiert mit seinen Texten | |
Interview Charlotte Köhler | |
taz: Julian Pollina, bei Ihrer neuen Single „Das Boot ist voll“ lief der | |
Release nicht wie geplant, der Text entfachte ein kontroverses Medienecho. | |
Wie haben Sie das erlebt? | |
Julian Pollina: Sehr, sehr stressig. Es waren definitiv nicht die | |
lustigsten Tage meines Lebens. Aber ich hab’s überlebt. Das ist ja schon | |
mal ein Anfang. | |
Nach einigen Tagen haben Sie das Musikvideo zur Single aus dem Netz | |
genommen. Und auch die Audioversion wurde nachträglich bearbeitet. Die | |
provokanteste Stelle im Refrain (siehe Infokasten) wurde ersetzt. Wie kam | |
es zu dem Entschluss? | |
Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und ich nicht ganz zufrieden | |
bin. Auch schon vor der Veröffentlichung. Für mich sind die Strophen sehr | |
wichtig. Der Refrain hat aber alles überschattet. Ich will der Kritik gar | |
nicht ausweichen. Ich weiß genau, warum ich diese Zeilen geschrieben habe. | |
Das war aus der Wut heraus. Dass das eigentliche Thema dann aber total | |
unterging, fand ich sehr schade. Ich habe aber auch von vielen Leuten | |
gesagt bekommen, ich sollte den Text so beibehalten, sonst wäre das Lied | |
schwächer. Da hat es für mich erst den Release gebraucht, um zu | |
realisieren: Das ist es doch nicht – so nicht. Die neue Version ist immer | |
noch sehr wütend, aber sie überschattet das Thema nicht. | |
Worum geht es Ihnen denn bei dem Song? | |
Um das Grundentsetzen darüber, dass es auf die Frage, ob man Menschen | |
rettet, zwei mögliche Antworten gibt. Nämlich Ja oder Nein. Wenn man an | |
diesem Punkt angelangt ist, dann läuft etwas auf einem ganzen Kontinent | |
gehörig falsch. Es waren viele Auslöser, die mich dazu bewegten, den Text | |
zu schreiben. Wie etwa die rechten Aufstände in Chemnitz oder auch | |
Seehofers Äußerung, der es als amüsant empfand, dass an seinem 69. | |
Geburtstag 69 Flüchtlinge abgeschoben wurden. Da kam viel Entsetzen | |
zusammen, das ich dann textlich verarbeitet habe. | |
Mit Ihrem Lied richten Sie sich an die Politik in Europa – oder hatten Sie | |
die Situation eines bestimmten Landes im Sinn? | |
Eigentlich ist es ein globales Problem, aber ich habe beim Schreiben | |
besonders an Europa gedacht. Ich erkenne dieselben Muster und Probleme in | |
ganz Europa. In Ländern wie Italien, Ungarn oder Polen spitzt sich die Lage | |
immer weiter zu. Das ist sehr krass und beschäftigt mich sehr. | |
Verfolgen Sie durch Ihren Vater, den Musiker Pippo Pollina, der aus | |
Sizilien kommt, die Situation in Italien näher? | |
Ja, auf jeden Fall, klar. Die Situation in Italien ist next level. Was | |
Salvini da abziehen kann und dennoch den totalen Rückhalt hat, ist schon | |
brutal. Das habe ich so in Deutschland oder der Schweiz noch nicht erlebt – | |
zum Glück. Die Situation ist aber auch eine andere. In Italien gibt es | |
viele Regionen, in denen das faschistische Gedankengut nie richtig | |
aufgearbeitet wurde und als normal gilt. In Sizilien sieht die Lage anders | |
aus. Die halten da die Stellung. Aber auch da herrscht eine große Wut. Die | |
richtet sich aber größtenteils nach Europa. Mit dem Tenor: „Wir sind eine | |
der ärmsten Provinzen Europas und bei uns kommen jeden Tag Menschen an, ihr | |
müsst uns bitte unterstützen.“ Ich denke, da ist dann europäische | |
Solidarität gefragt. | |
Haben Sie sich durch die teils sehr negativen Reaktionen auf die Single | |
unter Druck gesetzt gefühlt, die betreffenden Zeilen zu verändern? | |
Nein, gar nicht. Ich habe mich dazu entschieden, den Refrain zu ändern, als | |
es noch überhaupt keinen Artikel zum Lied gab. Und auch die Kommentare auf | |
Social Media waren nicht der Grund für meine Entscheidung. Die erste Stunde | |
nach der Veröffentlichung habe ich die Kommentare gelesen, danach habe ich | |
mir selbst Handyverbot erteilt. Ich glaube, manchmal ist es besser, nicht | |
alles zu lesen. In den Kommentarspalten auf YouTube und Co. haben sich aber | |
natürlich auch viele Rechte getummelt. Ich habe Morddrohungen erhalten. Das | |
ist schon heftig. | |
Ihnen wurden in Bezug auf den Refrain der Erstversion | |
Vergewaltigungsfantasien unterstellt. Können Sie diese Kritik | |
nachvollziehen? | |
Ich kann verstehen, dass man sich an den Zeilen stört. Aber dass man in dem | |
Refrain Vergewaltigungsfantasien sieht, kann ich nicht nachvollziehen und | |
war auch sehr überrascht von dieser Reaktion. Die Zeilen hatten da nichts | |
zu suchen, das stimmt schon – deshalb habe ich es ja rausgenommen. Aber | |
nicht, weil ich Leuten recht gebe, die mir Vergewaltigungsfantasien | |
unterstellen. | |
Ihre Band hat „Das Boot ist voll“ auf der Website von Faber als „neue | |
Skandalsingle“ beworben – in Optik bekannter Boulevardmedien. Haben Sie da | |
nicht mit starken Reaktionen gerechnet? | |
Der Begriff Skandalsingle passte perfekt in den Look. Dieser Look, der auf | |
der ganzen Welt genau gleich ist. In Deutschland ist es die Bild-Zeitung, | |
in der Schweiz die Blick-Zeitung, in Österreich die Kronen-Zeitung. Ein und | |
dieselbe Aufmachung, die man sofort erkennt. In diesen Medien gibt es immer | |
genau zwei Meldungen: Irgendein Promi ist super happy oder es gibt den | |
großen Skandal. Ich habe schon mit krassen Reaktionen auf die Single | |
gerechnet. Vor zwei Jahren habe ich mit „Wer nicht schwimmen kann, der | |
taucht“ schon etwas Ähnliches erlebt. Von rechts kamen Drohungen, wir | |
mussten uns so einiges anhören. Mir war klar, dass das nicht weniger werden | |
würde. | |
Das Lied ist durchaus zu einer Skandalsingle geworden. Auch wegen des | |
Inhalts, über den Sie singen? | |
Auf jeden Fall. Das stört mich am meisten, dass Menschen die Texte selbst | |
skandalöser finden als die Dinge, die sie beschreiben. Ich finde es total | |
weich, wenn jemand vehement versucht, einen Text kaputtzumachen, der eine | |
Gesellschaft beschreibt, in der etwas schiefläuft. Dass die politische Lage | |
wieder ins Bewusstsein rückt, war von Beginn an mein eigentliches Ziel. | |
Provozieren und polarisieren Sie gerne mit Ihrer Kunst? | |
Das weiß ich gar nicht. Es macht auf jeden Fall überhaupt keinen Spaß. Man | |
leidet sehr, sehr viel darunter. Wahrscheinlich zu Recht, denn man hätte es | |
ja auch einfach anders machen können. Aber irgendwie dann halt auch nicht, | |
denn man findet das, was man da tut, ja richtig und wichtig. Ich finde es | |
nur ehrlich, wenn Kunst nicht geradlinig ist und aneckt. Um meine Musik | |
bahnen sich immer wieder Diskussionen an. Im Endeffekt war das gut, es hat | |
mich weiter nach vorne gebracht – privat und musikalisch. | |
Wie stehen Sie zu dem Streben nach Political Correctness? Glauben Sie, dass | |
man politische Aussagen treffen kann, ohne sich dabei politisch korrekt | |
auszudrücken? | |
Erst einmal glaube ich, dass der Begriff Political Correctness | |
fälschlicherweise sehr stark negativ konnotiert ist. Dabei ist das Ziel | |
einer Ausdrucksweise, die für möglichst viele Menschen angenehm ist, sehr | |
erstrebenswert. Ein Ziel, das ich auch privat verfolge. Allerdings nicht | |
unbedingt in der Kunst. Ich möchte da keinen riesigen Schnitt ziehen, aber | |
dennoch glaube ich, dass Einschränkungen in der Sprache die Kunst blass | |
machen. Gerade wenn man mit vielen Bildern spielt, finde ich es wichtig und | |
gut, einen gewissen Spielraum zu haben. Privat beobachte ich allerdings | |
durchaus eine Änderung in der Art, mich auszudrücken. Mittlerweile achte | |
ich auf Dinge, die vor einigen Jahren überhaupt nicht im Bewusstsein der | |
Menschen waren. Das ist eine sehr positive Entwicklung. | |
Mit Ihrer Single reagieren Sie auf Wut und Hass mit noch mehr Aggression. | |
Funktioniert das? | |
Privat sehe ich das nicht als Lösung an, da setze ich auf Kommunikation und | |
offenen Austausch. In dem Lied waren es Entsetzen und Verzweiflung, die | |
sich angestaut hatten und denen ich dann Ausdruck verliehen habe. In der | |
Situation bringt sie aber niemanden weiter, die reine Wut. Das ist auch ein | |
Punkt, den ich als Kritik an der Single gut hätte nachvollziehen können. | |
Dass der Text nicht das Gespräch sucht und keine Lösung bietet. Eine | |
Gesamtlösung für die Probleme Europas parat zu haben, wäre aber wohl auch | |
ein zu hoher und unrealistischer Anspruch an einen Song. Es sitzen | |
Hunderttausende Politiker täglich zusammen und arbeiten an Konzepten, eine | |
dreiminütige Single wird da nicht die Antwort auf alle Fragen liefern. Muss | |
sie aber auch nicht. | |
Sehen Sie Künstler in der Pflicht zur politischen Positionierung? | |
Ich finde nicht, dass Menschen dazu verpflichtet sind, aber ich würde mir | |
wünschen, dass es mehr tun. Musik wird von vielen konsumiert und generiert | |
Aufmerksamkeit. Kunst im Allgemeinen kann Menschen berühren und sie dazu | |
bewegen, etwas zu verändern. Auf diese Weise kann man als Künstler seinen | |
Beitrag zur Gesellschaft leisten. | |
7 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Köhler | |
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