# taz.de -- Bei Detlef im Minivan | |
> Fremden vertrauen, die man nicht über eine App kennengelernt hat? Trampen | |
> scheint aus der Zeit gefallen, ist aber noch da. Eine Revivalreise auf | |
> der ehemaligen Transitstrecke Berlin–Helmstedt | |
Bild: Ist das etwa ein Fiat Ritmo? Egal. Hauptsache, für umme | |
Von Rebecca Stegmann | |
Es ist 8.20 Uhr morgens und ziemlich kalt. Trotzdem ziehe ich mir die Mütze | |
vom Kopf. Ich möchte so vertrauenerweckend wie möglich aussehen, | |
schließlich sollen mich fremde Menschen in ihr Auto einsteigen lassen. Ich | |
stehe an der Ausfahrt der Raststätte Grunewald im Südwesten Berlins. Der | |
Burger King hinter mir hat noch geschlossen, vor mir liegt ein kleiner, | |
halbleerer Parkplatz, dahinter die Tankstelle. Mit der linken Hand halte | |
ich ein Stück Pappe, auf dem groß „A 2“ geschrieben steht, den rechten Arm | |
habe ich ausgestreckt, Daumen hoch. Auf mich wartet die ehemalige | |
Transitstrecke und ein Termin nahe Helmstedt. | |
Nur zwei Kilometer südlich von hier, immer die A 115 entlang, drängelten | |
sich in den 70ern und 80ern Dutzende junge Menschen auf dem Seitenstreifen. | |
Pappschild an Pappschild, vor allem zu Beginn der Ferienzeit. Der | |
Grenzübergang Dreilinden war der Startpunkt der Transitstrecke nach | |
Helmstedt, der kürzeste Weg von Westberlin in die BRD. Die Tramper*innen | |
wollten zu ihren Familien oder verreisen, einfach raus. Die Polizei | |
verteilte damals Faltblätter, um das „Anhalterunwesen“ zu bekämpfen. | |
Die Raststätte Grunewald ist – was das Trampen angeht – vielleicht das neue | |
Dreilinden. Laut Hitchwiki, der Wikipedia für Tramper*innen, ist sie der | |
„Tramperstrich“, der vermutlich am meisten von Tramper*innen frequentierte | |
Ort in Deutschland. Die durchschnittliche Wartezeit auf eine | |
Mitfahrgelegenheit beträgt hier 36 Minuten, errechnet aus den Angaben von | |
77 Nutzer*innen. 103 Bewertungen attestieren, dass mein Standpunkt an der | |
Ausfahrt im Schnitt ein guter Platz zum Trampen ist. Die Tankwartin | |
bestätigt das: „Jeden Tag sind Tramper auf dem Parkplatz. Ich schaue da | |
schon gar nicht mehr richtig hin.“ Trampen, das in Deutschland seit den | |
90er Jahren totgesagt wird (Mitfahrzentralen, Billigflüge, zu viele | |
Horrorgeschichten) scheint hier recht lebendig. | |
Das erste Auto, das vor mir hält, ist allerdings ein Taxi. Der Mann hinter | |
dem Steuer grinst. Er weiß, dass ich trampen will. Mindestens 30 Autos | |
fahren an mir vorbei, meistens ignorieren mich die Fahrer*innen, ab und zu | |
heben sie entschuldigend die Schultern oder ziehen die Augenbrauen | |
zusammen. So was macht man doch heute nicht mehr, scheinen sie mir | |
vermitteln zu wollen. Lächeln und selbstbewusst aussehen fällt mir mit | |
jeder Abfuhr schwerer. | |
An dem, was Trampen ausmacht, hat sich trotz Internet und Smartphones | |
nichts geändert. Es gibt keine Abfahrtszeit. Ich weiß nicht, wer anhält, | |
mit wem ich einige Minuten oder Stunden in einem wenige Quadratmeter großen | |
geschlossenem Raum verbringen werde. Fremden vertrauen, und dann auch noch | |
welchen, die nicht über eine App oder Webseite mit einer Sternebewertung | |
versehen wurden, fühlt sich an wie ein kleiner Akt der Rebellion. | |
Nach einer halben Stunde stehen plötzlich zwei vollbepackte Frauen vor mir. | |
Eine hält ein Pappschild, auf dem „Köln“ steht. Petra und Mascha sind bei… | |
Anfang 20, in meinem Alter, und wollen heute bis nach Trier, in den | |
nächsten Tagen nach Madrid. „Warum stehst du denn hier und quatschst nicht | |
die Leute an der Tankstelle an?“, wollen sie wissen. Mascha läuft sofort | |
zum nächsten Auto auf dem Parkplatz, in das gerade zwei Männer einsteigen. | |
Mein Bauchgefühl sagt mir, nicht bei ihnen mitzufahren, und sie fahren auch | |
nicht in die richtige Richtung. Wir stehen ein paar Minuten da, dann hält | |
ein schwarzer BMW vor uns. Der Fahrer, in den Fünfzigern, randlose Brille | |
und Bauchansatz, ruft uns halb ernst, halb im Spaß zu: „Ich sag das jetzt | |
schon mal: Es gibt hier nichts zu klauen!“ | |
Jörg muss bis hinter Köln und nimmt uns alle drei mit. Ich sitze auf dem | |
Beifahrersitz, Mascha und Petra auf der Rückbank. Nach fast 40 Minuten | |
Wartezeit geht es endlich los, in einem schicken Dienstwagen rauf auf die A | |
115. „Ich bin als Kind selbst getrampt. Und ich will nicht, dass euch | |
irgendein Perverser mitnimmt“, erklärt unser Fahrer. Das letzte Mal habe er | |
vor drei Wochen jemanden eingesammelt. „Ich mache das schon öfters, ist | |
immer von der Tagesform abhängig.“ Einmal war es ein Pärchen, das Mädchen | |
hat auf der Rückbank Gitarre gespielt. Ein anderes Mal hielt er für einen | |
Punk, der dann plötzlich seinen Freund dazurief. | |
Wir rauschen an Dreilinden vorbei. Ich bin die Einzige, die einen Blick auf | |
die alte Anlage wirft. Auf dem Parkplatz parken nur Lkws, die Raststätte | |
ist verwaist. Es gibt keinen Seitenstreifen mehr, auf dem die Autos halten | |
könnten, und sie sind auch viel zu schnell unterwegs. „Tramperinsel | |
untergegangen“, stand im Juli 1990 über einem taz-Artikel. Die Polizei | |
schicke alle Autostopper an Dreilinden fort und drohe ihnen mit Bußgeldern. | |
„Gerade jetzt, wo in Berlin die Sonne großstadtfrustrierte Gemüter in die | |
weite Welt lockt.“ | |
Unser Fahrer ist blendend gelaunt und beschließt, dass wir eine | |
Vorstellungsrunde machen sollten. Petra und Mascha erzählen, was sie | |
studieren und dass sie sich auf einer Ägyptenreise der BUND-Jugend | |
kennengelernt haben. Um die Umwelt zu schonen, trampen sie nach Spanien, | |
statt zu fliegen. Vor dem Fenster ziehen Wälder vorbei. Ich hole eine | |
Packung Fruchtgummi aus dem Rucksack, und Jörg stellt uns Schätzfragen. Wie | |
viele Wörter hat die deutsche Sprache? Und wie viele benutzen wir im | |
Alltag? Seine Frau ruft an, er begrüßt sie mit „Hallo, Prinzessin“, dann | |
stellt er uns vor. | |
Nach anderthalb Stunden passieren wir den nächsten ehemaligen Kontrollpunkt | |
Marienborn, Ende der Transitstrecke. Vor der Wende konnten Tramper*innen | |
frühestens hier in Helmstedt wieder aussteigen oder rausgeschmissen werden. | |
Kurz hinter Helmstedt fährt Jörg für mich von der Autobahn ab. Ich bedanke | |
mich, drücke die Tür zu und winke. | |
Bis zu meinem Termin habe ich noch mehr als genug Zeit, also laufe ich die | |
letzten fünf Kilometer. Auf dem Rückweg will ich eigentlich nicht wieder zu | |
Fuß gehen. Ich stehe 20 Minuten an der kleinen Hauptstraße in Grasleben, | |
dann gebe ich auf und laufe bis zur Bundesstraße. Nach zwei Minuten kommt | |
ein Lkw vor mir zum Stehen. Ich klettere die ersten Stufen hoch und mache | |
die Tür auf. In der Fahrerkabine sitzt ein Mann mit Dreitagebart und | |
Brille. „Bis zur Auffahrt kann ich dich mitnehmen“, sagt er. Mein Fahrer | |
heißt Michael und hat Saatgut geladen, so viel erfahre ich auf der kurzen | |
Fahrt. Wenige Minuten später sitze ich schon bei Detlef im Minivan. | |
„Mutig!“, sagt er, als ich die Tür schließe. Auf seinem Heimweg bringt er | |
mich die nächsten paar Kilometer bis zur Raststätte Marienborn. | |
Nach einer kurzen Bockwurst-Pause laufe ich zur Ausfahrt, vorbei an den als | |
Gedenkstätte erhaltenen Resten des Kontrollpunktes. Dem langen Dach, unter | |
dem die Passkontrollen stattfanden, dem Kommandoturm, der Beschauerbrücke. | |
Ich positioniere mich an der schmalen Straße, mein zweites Schild, auf das | |
ich „Berlin“ geschrieben habe, vorm Bauch, Daumen hoch. Um die Mütze | |
abzusetzen, ist es zu kalt geworden. Nach knapp 20 Minuten fährt ein Auto | |
erst einige Meter an mir vorbei und setzt dann zurück. Ein älterer Mann mit | |
grauen Haaren sitzt hinter dem Lenkrad, ein junger mit braunem Vollbart auf | |
dem Beifahrersitz. Sie wollen nach Berlin rein, Volltreffer. Ihre Namen | |
wollen die beiden Maschinenbauer nicht in der Zeitung lesen, mit dem | |
Dienstwagen dürfen sie eigentlich niemanden mitnehmen. Ich rede mit dem | |
Fahrer über seine Reisen nach China. Irgendwann schaut er mich im | |
Rückspiegel an und sagt: „Wenn meine Tochter trampen würde, würde ich sie | |
fragen, ob sie den Schuss nicht gehört hat.“ Der Jüngere erwidert, in der | |
Ringbahn könne Frauen genauso gut etwas zustoßen. | |
1985 veröffentlichte die taz einen Artikel über den Tod von neun | |
Tramper*innen innerhalb eines Jahres. Kurz darauf wurde der Brief einer | |
wütenden Frau abgedruckt. „Durch weniger Trampen werden die Machtgelüste | |
und die Frauenfeindlichkeit bestimmt nicht weniger. Eher wird der Raum, in | |
dem sich Frauen bewegen, eingeschränkter“, schrieb sie. | |
Anders als in den 80ern gibt es heute überall Überwachungskameras, man kann | |
vor der Fahrt ein Foto des Nummernschilds verschicken, den aktuellen | |
Standort von Freund*innen verfolgen lassen, selbst über GPS überprüfen, ob | |
man auf der richtigen Route ist. Natürlich habe ich die Ermordung der | |
Tramperin Sophia Lösche im Hinterkopf. Und die Stimmen, die sagten, sie sei | |
naiv gewesen. Dagegen stelle ich die Statistiken, die besagen, dass die | |
eigene Wohnung der gefährlichste Ort für Frauen ist. Und die über 12.000 | |
Kilometer, die ich auf fünf Kontinenten per Anhalter zurückgelegt habe. | |
Zurück in Berlin, wir verabschieden uns. S-Bahn-Station Messe Nord, ich | |
sitze nun im Zug. Trampen ist anstrengend. Und immer noch ein Abenteuer. | |
27 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Rebecca Stegmann | |
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