# taz.de -- Endstation Märtyrer | |
> Drei Jahre nach dem Putschversuch hat die AKP-Regierung ihre Propaganda | |
> fest in die Gedenkkultur eingeschrieben. Die Mythenbildung beginnt in der | |
> Grundschule | |
Bild: Kollektive Heldenverehrung am Atatürk-Flughafen in Istanbul | |
Von Beyza Kural | |
Nächste Haltestelle: Brücke der Märtyrer des 15. Juli. Zum Mahnmal für die | |
Märtyrer des 15. Juli bitte hier aussteigen.“ Der Metrobus hält am Fuß der | |
Bosporusbrücke. Seit 1970 verbindet die Bosporusbrücke den europäischen und | |
den asiatischen Teil Istanbuls miteinander. Kurz nach dem Putschversuch | |
wurde sie in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ umbenannt. | |
Auf beiden Seiten der Brücke wurden Mahnmale zur Erinnerung an die | |
Putschnacht errichtet. Die Gedenkstätte auf der anatolischen Seite der | |
Brücke ist kuppelförmig gebaut und trägt eine Tafel mit der Inschrift der | |
Namen von 249 Menschen, die in der Putschnacht vor drei Jahren ums Leben | |
gekommen sind. Der Innenraum der Gedenkstätte wird 24 Stunden durchgehend | |
mit Versen aus dem Koran beschallt. Um die Gedenkstätte herum wurden | |
Zypressen gepflanzt, denen die Namen der Getöteten gegeben wurden. | |
Während noch viele Fragen zum Geschehen in der Putschnacht unbeantwortet | |
waren, begann die türkische Regierung schon mit der Geschichtsschreibung. | |
Der 15. Juli wurde als „Tag der Demokratie und der nationalen Einheit“ | |
offiziell zum Feiertag erklärt. Nicht nur die Brücke, allein in Istanbul | |
wurden mehr als 50 Plätze, Parks und Bushaltestellen zur Erinnerung an den | |
Putschversuch umbenannt. | |
## Das blutige Ereignis wird zur offiziellen Marke | |
Drei Jahre nach dem Putschversuch sind in der Türkei die Erinnerungen an | |
die blutigen Ereignisse nach wie vor präsent. Niedergeschlagen wurde der | |
Umsturzversuch, nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan über CNN die | |
Bevölkerung aufrief, auf die Straßen zu gehen und Widerstand zu leisten. | |
Im Ausnahmezustand, der wenige Tage nach dem Putschversuch verhängt wurde | |
und bis Juli 2018 andauerte, wurden mehr als hunderttausend | |
Staatsbedienstete per Dekret suspendiert, Zehntausende Menschen, | |
oppositionelle Politiker*innen und Journalist*innen wurden verhaftet, mehr | |
als 100 Medien und Verlage geschlossen. | |
Seit drei Jahren feiert die Türkei das blutige Ereignis als „Sieg der | |
Demokratie“. Ein offizielles Logo zum 15. Juli wurde zur Marke, jedes Jahr | |
wird von offizieller Stelle ein neues veröffentlicht. Wer den „Tag der | |
Demokratie und der nationalen Einheit“ feiern möchte, findet auf der | |
Internetseite der neu gegründeten [1][Kommunikationsbehörde des | |
Staatspräsidiums] die aktuellsten Logos, Videos und Plakate zum | |
Herunterladen. | |
In der Türkei, die etwa alle zehn Jahre einen Putschversuch erlebt, nehme | |
dieser letzte einen besonderen Stellenwert ein, erzählt Yasin Şafak, der | |
wie viele Menschen in der Putschnacht auf die Straße ging, um die Soldaten | |
zu stoppen: „In der Geschichte der Türkei wurden Putsche immer mit dem | |
Schutz des Staates begründet. Dieses Mal war es anders. Denn dieses Mal | |
bedeutete Widerstand gegen den Putsch, den Staat zu verteidigen.“ | |
Durch Mythenbildung Fakten zu schaffen hat Tradition in der türkischen | |
Geschichte. Die Politikwissenschaftlerin Büşra Ersanlı, die ein Buch zur | |
offiziellen Geschichtsschreibung in der Türkei veröffentlicht hat, erinnert | |
daran, dass auch nach dem Putsch 1960 der 27. Mai als „Tag der Freiheit und | |
der Verfassung“ zum offiziellen Feiertag erklärt wurde. | |
Im Jahr 1982, nach dem Militärputsch 1980, sei der Feiertag dann wieder | |
abgeschafft worden. Deshalb, so glaubt sie, könne diese Art der | |
Geschichtserzählung nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Die | |
Regierungen wechselten, doch die Praxis der staatlichen | |
Geschichtsschreibung blieb gleich. Schon seit jeher mussten Ersanlı zufolge | |
auch Schulbücher als bevorzugtes Medium für eine Geschichtserzählung zu | |
Propagandazwecken herhalten: „In diesen Büchern finden wir keine sachlichen | |
Informationen, sondern eine propagandafokussierte Sicht der Ereignisse“, | |
sagt sie. | |
Seit der Putschversuch von 2016 in den Lehrplan aufgenommen wurde, sind auf | |
der Rückseite der Schulbücher das Logo des 15. Juli und Figuren abgebildet, | |
die vor der Bosporusbrücke die türkische Flagge schwenken. Zehnjährige | |
Schüler*innen lernen in der Grundschule vom „ruhmreichen Widerstand“, den | |
das „heldenhafte türkische Volk“ gegen die Putschisten geleistet hat. Das | |
gesellschaftliche Trauma wird als Sieg der Demokratie abgehandelt. „Wir | |
müssen begreifen, welche Bedeutung und welchen Wert dieser Tag hat, der uns | |
zeigt, dass keine Kraft der Welt vor der nationalen Willenskraft bestehen | |
kann“, steht etwa in dem Schulbuch, und: „Wir sind unseren Märtyrern und | |
Kriegsveteranen, die ihr Leben dafür aufs Spiel setzten, zu Dank | |
verpflichtet.“ | |
## „Wir sind Märtyrern zu Dank verpflichtet“ | |
Seit dem Putschversuch würden Schüler*innen im Sozialkundebuch der 6. | |
Klasse zudem gefragt, was sie unter Demokratie verstehen, erzählt die | |
Politikwissenschaftlerin Ersanlı. „Passt das zu den Prinzipien der | |
Demokratie, die hier von den Schüler*innen abgefragt werden?“ | |
Am 13. Juli erhielten Bürger*innen eine SMS mit der Unterschrift des | |
Bildungsministers Ziya Selçuk: „Wir sind denjenigen etwas schuldig, die | |
sich vor die Panzer gestellt haben, die nicht nach Hause gegangen sind, | |
sondern als Märtyrer gestorben sind.“ Ebenfalls per SMS ruft das | |
Präsidentenamt dazu auf, an der Gedenkveranstaltung am Atatürk-Flughafen | |
teilzunehmen. Als Erdoğan vor drei Jahren in der Putschnacht an diesem | |
Flughafen landete, wurde er mit großem Jubel empfangen. | |
Heute, drei Jahre nach dem Putschversuch, nach zwei Jahren Ausnahmezustand, | |
stehen Erdoğan und die AKP an einem anderen Punkt. Die türkische Wirtschaft | |
befindet sich in der Krise. Erdoğan kassierte bei den Kommunalwahlen eine | |
herbe Niederlage. Doch der niedergeschlagene Putschversuch, das wird bei | |
der Gedenkveranstaltung am Atatürk-Flughafen erneut deutlich, wurde für | |
Erdoğan zum Erbe seiner Herrschaft. „Der 15. Juli ist ein Symbol, das uns | |
nicht nur diese dunkle Nacht, sondern an all die Ereignisse erinnern muss, | |
die unser Land und unser Volk im Zusammenhang damit erlebt hat“, sagt er am | |
Abend in seiner Rede vor der Menschenmenge, die mit Fahnen gekommen ist, um | |
der Putschnacht zu gedenken. „Wir sind entschlossen, unsere Bemühungen bis | |
zu unserem letzten Atemzug fortzuführen. Wir werden nicht aufhören, bis wir | |
das Ziel unserer glücklichen Reise erreicht haben, die wir mit unserem Volk | |
angetreten haben.“ | |
Übersetzung: Judith Braselmann-Aslantaş | |
20 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://kurumsal.15temmuz.gov.tr/#billboard | |
## AUTOREN | |
Beyza Kural | |
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