Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vorurteil oder Denkform
> Weniger Neonazis in den Stadien, aber trotzdem alter und neuer Judenhass?
> Eine Studie untersucht den „Antisemitismus im Fußball“
Von Frederik Schindler
Kiel im April 2019. Am Rande eines Amateurfußballspiels schreit ein Fan
nach einer Schiedsrichterentscheidung: „Jude, Jude, Jude!“ Von einem
anderen Zuschauer auf die Äußerungen kritisch angesprochen, schreit der
Mann: „Ich darf jeden als Juden beleidigen!“ Niemand anderes reagiert,
obwohl zahlreiche weitere Personen den Vorfall mitbekommen. So schildert es
Lida-SH, die unabhängige Meldestelle für Antisemitismus in
Schleswig-Holstein. Dass dies kein Einzelfall ist und Antisemitismus im
Fußball seit Jahrzehnten verbreitet ist, ist bekannt. Doch warum kann der
Hass auf Juden im Fußball so offen geäußert werden? Mit dieser Frage
beschäftigt sich die Studie „Antisemitismus im Fußball. Tradition und
Tabubruch“ des Politikwissenschaftlers Florian Schubert.
Zunächst liefert Schubert einen umfangreichen historischen Überblick, der
die Wandelbarkeit des Antisemitismus verdeutlicht. Seien die Fußballstadien
in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre laut dem Autor noch ein „Hort des
Neonazismus“ gewesen, so habe sich dieser Trend zumindest bei den
Profiligen Ende der 90er Jahre deutlich abgeschwächt. Ein Faktor dafür sei
auch das Aufkommen der Ultrakultur gewesen, die teilweise für die
Verdrängung von rechten Hooligans verantwortlich gewesen sei. Zudem hätten
sich die rechtsextremen Szenen eher in die unteren Ligen verlagert, wo sie
ungestörter agieren könnten.
## Als Stellvertreter
Auch im Amateurfußball und insbesondere im Umgang mit den jüdischen
Makkabi-Teams stellt die Studie einen Wandel fest: „In der Auswertung des
Interview- und Datenmaterials wird deutlich auf die Veränderungen bei den
Vorfällen gegenüber den Makkabi-Vereinen mit dem Verweis auf den Begriff
des ‚neuen Antisemitismus‘ hingewiesen“, schreibt Schubert. Seien
antisemitische Angriffe gegen Makkabi früher fast immer von Rechtsradikalen
ausgegangen, so würden diese in den letzten Jahren „fast ausschließlich“
bei Spielen mit mehrheitlich muslimischen Spielern vorkommen. Insbesondere
während kriegerischer Auseinandersetzungen im Nahen Osten würden die Teams
dann „als Stellvertreter Israels“ angegriffen werden. Betroffen seien davon
auch die muslimischen Makkabi-Spieler: Diese werden dann von anderen als
„Verräter“ gebrandmarkt. Einmal mehr zeigt sich, dass der Antisemitismus
sogar ohne Juden auskommt. Leider werden der Definition von Antisemitismus
in dem Buch lediglich zwei Seiten eingeräumt. Das ist deutlich zu wenig, um
ein so komplexes Problem, das in den verschiedensten Spielarten auftritt,
zu erfassen. Der Autor betont zwar, dass es sich bei Antisemitismus nicht
um eine Form des Rassismus handelt und nennt als wichtigstes
Unterscheidungsmerkmal, dass der Antisemitismus nicht nur eine
Überlegenheits-, sondern auch eine Unterlegenheitsfantasie sei.
Im Folgenden verwendet Schubert jedoch das Konzept einer binären „Wir und
die Anderen“-Differenz-Konstruktion, um den Antisemitismus zu erklären.
Juden und Israel werden im modernen Antisemitismus jedoch häufig als
außerhalb der nationalen Ordnung der Welt stehend und gefährlich für diese
Ordnung konstruiert. Claudia Globisch nennt diese Konstruktion des Juden
als nichtidentisch, ambivalent und parasitär die „Figur des Dritten“.
Ebenso verhält es sich oftmals in der geopolitischen Reproduktion des
Antisemitismus. Israel gilt dann als etwas Artifizielles, als
Unterminierung des nationalen Prinzips von Volk und Boden, wohingegen alle
anderen Nationalstaaten nicht als Konstrukt, sondern als etwas Natürliches
erscheinen.
Außerdem wird Antisemitismus in der Studie gelegentlich fälschlicherweise
als „Vorurteil“ bezeichnet. Viel mehr handelt es sich bei dem modernen
Antisemitismus allerdings um eine ideologische Denkform. Der Antisemitismus
ist eine Verschwörungsfantasie mit dem Anspruch einer Welterklärung und
einem systemartigen Charakter. Darin gelten die Juden als Wurzel allen
Übels, als „Lösung“ dieses Übels gilt die Vernichtung.
Es ist jedoch das Verdienst der Studie, dass antisemitische Vorfälle im
Fußballkontext systematisch analysiert und nicht wie bislang meist rein
deskriptiv beschrieben werden. Lesenswert ist dabei auch die Kritik von
Sichtweisen, die Fußball als „Spiegelbild“ oder „Brennglas“ der
Gesellschaft beschreiben. So sind in der Fankurve andere Verhaltensweisen
akzeptiert und sogar erwünscht als außerhalb des Stadions. Das Buch
behandelt das Auftreten von Judenhass im Fußball als eigenständiges
Phänomen und sucht dabei die spezifischen Ursachen in der Fankultur.
Florian Schubert: „Antisemitismus im Fußball“. Wallstein Verlag, 488 S.,
39,90 Euro
6 Jul 2019
## AUTOREN
Frederik Schindler
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.