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# taz.de -- nordđŸŸthema: Die neue Sucht
> AbhÀngigkeit ohne Drogen ist nun offiziell eine Krankheit: Die
> Weltgesundheitsorganisation hat „Computerspielsucht“ in ihren
> Krankheitskatalog aufgenommen. Ein niedersÀchsisches Projekt erforscht
> schon seit 2017, wie Medien abhÀngig machen
Bild: Der Avatar, ein idealisiertes Selbstbild? Junger Mann beim Spielen eines …
Von Jacqueline Hadasch
Exzessives Verhalten, Kontrollverlust, AbhĂ€ngigkeit – aber es geht nicht um
Drogen. Das [1][Projekt „Re:set!“] der niedersĂ€chsischen Landesstelle fĂŒr
Suchtfragen bietet professionelle Beratung fĂŒr Menschen, die auf andere
Weise abhĂ€ngig sind: Sie sind sĂŒchtig nach Medien; das können
Computerspiele sein, aber auch die Nutzung sogenannter sozialer Netzwerke
oder auch von Online-Videos. Das niedersÀchsische Projekt ist damit
Ausdruck einer neuen Suchtdefinition: Lange lag der Fokus auf
SubstanzabhĂ€ngigkeit, die natĂŒrlich auch weiterhin ein Thema ist. Aber
Menschen leiden heute verstÀrkt auch an Suchtverhalten ohne Drogenkonsum,
„stoffungebundene Sucht“ heißt das im Fachjargon.
Im Katalog der Anerkannten
Womit sich Re:set! schon seit dem Jahr 2017 beschÀftigt, ist inzwischen
offiziell als Krankheit anerkannt: Die Weltgesundheitsorganisation hat
kĂŒrzlich VerhaltenssĂŒchte in ihren Krankheitskatalog (ICD-11) aufgenommen.
Zu dieser neuen Kategorie gehört auch die Computerspielsucht. Dass es sich
dabei um ein „Erscheinungsbild mit weiterem Forschungsbedarf“ handele,
erklÀrte 2013 bereits die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA)
in ihrem Katalog psychischer Störungen (DSM-5).
Die APA definierte neun Kriterien zur Identifikation gestörten
Spielverhaltens im Internet, verwies jedoch auf fehlende wissenschaftliche
Belege, um Computerspielsucht als offizielle Krankheit zu klassifizieren.
Die WHO sieht diese nun, sechs Jahre spÀter, als gegeben. Auch die
suchtartige Nutzung von Social Media sei laut WHO ein ernsthaftes Problem –
sei aber noch nicht genĂŒgend erforscht, um sie als eigene Krankheit zu
kategorisieren.
Die fachliche EinschĂ€tzung ist das eine – öffentliche Aufmerksamkeit
genießt das Thema Mediensucht schon jetzt. „Die Entstehung von
VerhaltenssĂŒchten geht auch mit der zunehmenden Digitalisierung einher“,
sagt Hans-Joachim Heuer vom niedersÀchsischen Sozialministerium. Diesem
gesellschaftlichen Wandel mĂŒsse die Politik gerecht werden – also auch
Projekte wie „Re:set!“ aktiv fördern.
„Neue Medien stellen uns vor neue Aufgaben“, sagt Heuer, der im Ministerium
die Abteilung Soziales, Pflege und Arbeitsschutz leitet. Obgleich wir im
Umgang mit Medien nicht genĂŒgend geschult seien: Diese Medien und ihre
Nutzung seien aus der heutigen Gesellschaft ja nicht mehr wegzudenken.
Diesen Gedanken stĂŒtzt [2][eine gemeinsame Studie] von ARD und ZDF: 2018
verbrachten demnach deutsche Nutzer unter 30 Jahren pro Tag
durchschnittlich 353 Minuten – knappe sechs Stunden! – im Internet.
Tendenz: steigend, und zwar jedes Jahr um 47 Minuten pro Tag.
Dass wir uns kaum von den Medien lösen können, liegt auch an deren Design:
Oft verwenden Medienanbieter gezielte Suchtmechanismen, um ihre Nutzer an
die App, das Spiel oder das soziale Netzwerk zu binden. Insofern sind
Medien aus den gleichen GrĂŒnden wie „richtige“ Drogen suchtgefĂ€hrdend: ïżœ…
sind leicht verfĂŒgbar, können Menschen schnell herunterbringen und fĂŒhren
zu schneller Belohnung“, sagt Hans-JĂŒrgen Rumpf von der Deutschen
Gesellschaft fĂŒr Suchtforschung und Suchttherapie. Belohnend wirken bei
Online-Spielen beispielsweise die FÀhigkeiten des Avatars, TrophÀen, Waffen
oder Sterne. In sozialen Medien seien es virtuelle Kontakte und soziale
BestĂ€tigung, erzĂ€hlt Rumpf, Privatdozent der UniversitĂ€t LĂŒbeck.
Dauernd online – dank Psychotricks
Die Parallelen von Medien- und Drogensucht zeigen sich nicht zuletzt darin,
wie das Hirn auf beide reagiert. Bei beiden liegt der gleiche
neurobiologische Mechanismus zugrunde: „Durch positive, belohnende
Erfahrungen lernt unser Gehirn, seine Aufmerksamkeit stÀrker auf den
auslösenden und belohnenden Reiz zu richten“, erklĂ€rt Rumpf. „Den Impuls,
einer Versuchung immer wieder nachzugeben, schrÀnkt der sogenannte
PrÀfrontale Cortex aber ein. Er funktioniert also als Kontrollsystem, das
fĂŒr eine angemessene Verwendung von belohnenden Verhaltensweisen sorgt –
normalerweise. Ist ein Mensch einer Sucht verfallen, hat diese den
Steuerungsmechanismus ausgehebelt. Betroffene haben keine Kontrolle mehr.“
Die Online-Belohnung lÀsst uns also durch einen Kontrollverlust der Sucht
verfallen. Was sich auf dem Weg dorthin in unserem Gehirn abspielt, weiß
Tagrid LemĂ©nager vom Zentralinstitut fĂŒr Seelische Gesundheit in Mannheim:
Das Belohnungsempfinden von Nutzern sozialer Netzwerke sei sogar abbildbar,
erzÀhlt die auf klinisch abhÀngiges Verhalten und Suchtmedizin
spezialisierte Forscherin. Ein Beispiel dafĂŒr sind Likes; Bilder oder
andere Posts mit mehr „GefĂ€llt mir“-Angaben erzeugen eine stĂ€rkere messba…
GehirnaktivitĂ€t, sagt LemĂ©nager. Likes sind lĂ€ngst die WĂ€hrung fĂŒr
BestÀtigung und Selbstwert. So kompensiert Mediensucht meist
Selbstkonzeptdefizite.
Wie genau wir unsere Egos per Mausklick – oder Touchscreen-Wichen –
vergrĂ¶ĂŸern wollen, ist auch Teil von LemĂ©nagers Forschungsgebiet. „Im
Onlinespiel ist der Avatar oft dem Idealbild des Spielers nÀher als die
eigene Person“, erzĂ€hlt sie. Die Spielfigur sei etwa mutiger, erfolgreicher
und heldenhafter, als sich der Betroffene selbst im realen Leben fĂŒhle. Das
helfe, die eigene Unzufriedenheit zumindest fĂŒr eine kurze Zeit zu
verdrÀngen. Auch in sozialen Medien treibt der Wunsch nach sozialer
Anerkennung User hÀufig dazu an, ein idealisiertes Selbstbild zu
prÀsentieren, das freilich meist vom TatsÀchlichen abweicht. Die Abweichung
kompensieren die Likes – so hoffen wir zumindest.
Warnung vor Überreaktion
Mediensucht ist also Ausdruck unserer tiefsten inneren BedĂŒrfnisse, der
Beratungsbedarf dementsprechend groß: Immer mehr Betroffene nĂ€hmen die
Hilfe in landesweit 16 Re:set!-Mediensuchtberatungsstellen in Anspruch,
sagt Astrid MĂŒller, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. Dass
zumindest die Computerspielsucht nun offiziell von der
Weltgesundheitsorganisation anerkannt sei – und somit auch abrechnungsfĂ€hig
mit den Kassen –, freut die Leitende Psychologin der Klinik fĂŒr
Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover:
„Das ist eine bessere Arbeitsgrundlage fĂŒr die Psychotherapie.“
Gleichzeitig warnt MĂŒller vor Überreaktion oder gar Stigmatisierung: „Nicht
jeder, der Medien viel nutzt, ist gleich sĂŒchtig und braucht eine
Therapie.“ Die Psychotherapeutin begrĂŒĂŸt, dass das Projekt Re:set! um ein
Jahr verlÀngert wird: WÀhrend dieser Zeit soll ein Leitfaden zur Beratung
bei Mediensucht erstellt werden. Dieser solle Mediensuchtberater dann etwa
auch dafĂŒr sensibilisieren, wann Betroffene an Psychotherapeuten zu
ĂŒberweisen seien.
Dass „noch viel getan werden“ mĂŒsse, sagt auch Tagrid LemĂ©nager. Chancen
und Risiken der Mediennutzung mĂŒssten in Zukunft noch stĂ€rker ins
Bewusstsein gerĂŒckt werden. Und dafĂŒr sei ein Projekt wie Re:set! ein guter
Anfang.
8 Jun 2019
## LINKS
[1] https://nls-online.de/home16/index.php/2-ohne-kategorie/152-re-set
[2] http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/
## AUTOREN
Jacqueline Hadasch
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