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# taz.de -- Verschleppt und vergessen
> Die EU bezahlt Marokko dafür, Flüchtende auf dem Mittelmeer abzufangen.
> Was danach mit ihnen geschieht, darum kümmert sie sich nicht. Cora lebt
> mit ihrer neugeborenen Tochter auf der Straße – und hofft weiter auf
> Europa
Bild: Im Vordergrund die Küste bei Tanger, in Sichtweite Spanien, dazwischen d…
Aus Tiznit Nora Noll
Cora zieht den Reißverschluss ihres blau-rosa Campingzeltes auf und lädt in
ihr Zuhause ein. Die 26-Jährige setzt sich auf die Luftmatratze, „Mach es
dir bequem!“ Sie wirft ihre langen Zöpfe hinter die Schultern und kramt
zwischen den Decken und Kissen nach einer Windel für die Kleine. „Ich sag
einfach, dass du eine Freundin bist und mich besuchen kommst“, sagt sie,
für den Fall, dass uns die Polizei hier stört. Wir müssen diskret sein.
Erst vor Kurzem wurde ein Reporterteam verhaftet und deren Kameras
beschlagnahmt, erzählt sie.
Cora heißt anders. Sie will nicht erkannt werden, vor allem nicht von ihrer
Familie in Kamerun. „Wenn meine Mutter wüsste, wie ich hier lebe, würde sie
nur noch weinen.“ Seit fünf Monaten lebt Cora in Marokko auf der Straße,
seit zwei Monaten mit ihrer neugeborenen Tochter.
Ihr Zelt steht unter den Torbögen einer leerstehenden Geschäftszeile. Die
Ziergitter sind nach außen hin mit Decken verhängt. Das provisorische Camp
beherbergt zweihundert Migrant*innen aus westafrikanischen Ländern. Sie
wurden, wie Cora, aus dem Norden Marokkos nach Tiznit verschleppt, in eine
Kleinstadt südlich von Agadir.
## Flucht vor dem Bürgerkrieg
Am 14. November 2017 verließ Cora Kamerun. Sie floh vor einem Bürgerkrieg,
der seit 2017 den englischsprachigen Teil des Landes erschüttert, einem
bewaffneten Konflikt zwischen dem nationalen Militär und Separatisten, die
dort die Republik Ambazonia ausgerufen haben. Über 160.000 Menschen sind
bereits auf der Flucht, 70 Dörfer in der Region wurden angegriffen.
Cora lebte direkt in der Konfliktregion, in Bamenda. „Ich konnte mein
Geschäft nicht weiterführen, wegen der Kämpfe wurden die Produkte nicht
mehr geliefert“, erzählt sie. Die Stadt wurde vom Militär kontrolliert,
jeden Tag kam es zu Schießereien. „Wir konnten tagelang nicht das Haus
verlassen.“
Sie flieht, von Kamerun aus durch Nigeria und Algerien nach Marokko. Ohne
Visum muss sie die Grenze nach Algerien illegal überqueren. „Wir mussten
eine Woche lang durch die Sahara laufen und hatten kaum Wasser dabei“, sagt
Cora. „Es gibt Kriminelle, die an der Grenze die Konvois abpassen und Geld
erpressen. Es gibt Vergewaltigungen. Auf der Reise passieren unvorstellbare
Dinge.“ Als sie es über die Grenze nach Marokko schafft, ist sie schwanger.
Seit dem Bürgerkrieg im Kamerun ist die Zahl kamerunischer Geflüchteter in
Marokko gestiegen: 2014 registriert der UNHCR 184 Asylsuchende und
anerkannte Flüchtlinge aus Kamerun, 2017 sind es 614 Menschen. Wie viele
tatsächlich kommen, lässt sich nicht genau sagen, viele Geflüchtete und
Migrant*innen halten sich ohne Papiere im Land auf und werden weder von
Marokko noch vom UNHCR erfasst.
Geflüchtete aus Kamerun könnten Asyl beim UNHCR in Rabat beantragen. Die
Organisation ist für den Schutz von Geflüchteten verantwortlich, weil
Marokko bisher kein eigenes Asylsystem hat. „Wir warten auf das Gesetz. Bis
dahin muss jeder Flüchtling erst von uns, dann zusätzlich von einer
marokkanischen Kommission anerkannt werden“, sagt ein Mitarbeiter des
UNHCR-Büros in Rabat, der aus Sorge um seinen Arbeitsplatz anonym bleiben
möchte.
Nur wenige Gesuche werden anerkannt – 2017 bekamen 15 Prozent der
kamerunischen Asylsuchenden einen positiven Bescheid. Auch wenn Asyl
gewährt wird, ist die Unterstützung, die der UNHCR leisten kann, begrenzt:
Die Geflüchteten erhalten nur bei besonderer Bedürftigkeit finanzielle
Hilfe. Laut der Behörde vor Ort fehlten 6,9 Millionen Euro allein im Jahr
2018.
Die Unsichtbaren aus Kamerun, sie rechnen entweder nicht damit, als
Flüchtling anerkannt zu werden. Oder sie melden sich nicht beim UNHCR, weil
sie nicht in Marokko bleiben wollen. So wie Cora. Sie geht nach Tanger, dem
Ort, der ihrem Ziel am nächsten liegt: Europa. Sie findet auch ohne Papiere
einen Job und spart sich das Geld für die Überfahrt nach Spanien zusammen.
300 Euro bezahlt sie für einen Platz auf einem Familienschlauchboot ohne
Motor, nur mit Paddel. „Ich hatte solche Angst auf dem Meer“, sagt sie.
„Aber ich wollte, dass mein Kind in Europa zur Welt kommt.“ Doch bevor das
Boot in spanische Gewässer kommt, wird es von der marokkanischen Marine
gesichtet und gestoppt.
Marokko kämpft gegen die Migration übers Mittelmeer und bekommt dafür Geld
von der EU. Seit 2014 sind bereits 232 Millionen Euro im Rahmen einer
sogenannten Migrationskooperation nach Marokko geflossen. Nur vier Prozent
der Gelder sind für die Integration von Migrant*innen bestimmt. Der Rest
dient dem „Migration- and border management“, also dem Grenzschutz. Die EU
finanziert das Equipment wie Fahrzeuge, Boote und Funksysteme.
Nach Angaben des Pressesprechers der EU-Kommission Alceo Smerilli soll das
Geld in Zukunft auch der Ausbildung marokkanischer Grenzschützer*innen
dienen. Aber der marokkanische Grenzschutz beschränkt sich nicht auf
Küstenbewachung. Um Migrant*innen vom Mittelmeer fernzuhalten, setzt
Marokko auch andere, illegale Mittel ein.
Cora ist im fünften Monat schwanger, als vermummte Polizisten im November
ihre Wohnung in Tanger stürmen. „Ich musste mitkommen, sie haben mir mein
Handy abgenommen und als wir zum Kommissariat gefahren sind, habe ich
gesehen, wie meine Wohnung ausgeräumt wird.“ Von der Wache aus wird sie in
Handschellen zu einem Bus gebracht. „Ich habe die Polizisten gefragt:
Warum? Ich bin doch keine Kriminelle!“, erzählt sie.
Die Busfahrt dauert über zehn Stunden und bringt Cora in den Süden Marokkos
– 900 Kilometer entfernt von Tanger. „Wir wurden auf einer Straße
rausgelassen und wussten nicht, wo wir sind. Fünf Stunden sind wir
gelaufen, bis wir Tiznit gefunden haben.“
Deportationen in südliche Grenzgebiete sind in Marokko seit Jahren gängige
Praxis. „Es gibt keine Rechtsgrundlage, keinen richterlichen Beschluss und
keine polizeilichen Akten. Und es ist vollkommen sinnlos, weil die
Migranten, sobald sie können, wieder in den Norden fahren“, sagt Omar Naji,
Aktivist der Menschenrechtsorganisation AMDH. Cora sollte eigentlich vor
Deportationen geschützt sein: Das 2003 erlassene Ausländergesetz schließt
in Artikel 29 schwangere Frauen prinzipiell von Rückführungen aus. In Coras
Fall interessierte das die Polizei in Tanger jedoch nicht.
Die Deportationen müssten der EU bekannt sein. Es gibt Interviews mit
Betroffenen, Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Amnesty
International verurteilen öffentlich die Massenverhaftungen und
Bustransporte. Trotzdem wurde im Dezember 2018 ein neues Geldpaket
beschlossen: 140 Millionen Euro schickt die EU nach Marokko, um
Migrant*innen von Europa fernzuhalten. 70 Millionen gehen direkt an die
marokkanische Regierung. Laut Alceo Smerilli, dem Pressesprecher der
EU-Kommission, soll mit dem Geld keine menschenrechtswidrige Politik
unterstützt werden. Er sagt nicht, wie die EU das nach der Auszahlung
überprüfen will.
Cora lebt seit ihrer Deportation auf der Straße in Tiznit, seit zwei
Monaten mit ihrer neugeborenen Tochter. Das Baby schläft, während Cora
Kartoffeln schält. Sie kocht für sich und ihre Zeltnachbarn, alles Männer
aus westafrikanischen Ländern, ebenfalls nach Tiznit deportiert. Im
Gegenzug teilen die Nachbarn mit ihr das erbettelte Geld, gefundene
Lebensmittel und Wasser, das sie aus dem gegenüberliegenden Restaurant
holen. Die Bewohner*innen des Camps schlagen sich durch, so gut es geht.
Sie sind auf sich allein gestellt.
## Keine humanitäre Hilfe
Sara Injah arbeitet ehrenamtlich für die Menschenrechtsorganisation AMDH in
Tiznit. Sie erzählt, dass im vergangenen Herbst Leute von Ärzte ohne
Grenzen nach Tiznit kamen und medizinische Hilfe leisteten. Aber nach zwei
Monaten wurde die Intervention beendet. „Alle haben gedacht, dass die
Deportationen bald aufhören. Aber erst letzte Woche sind wieder zwei Busse
gekommen“, sagt Injah. Der AMDH hat keine Mittel, um humanitäre Hilfe zu
leisten.
Die ersten Wochen in Tiznit bettelte Cora nicht. „Ich wollte Geld
verdienen, so habe ich es in Kamerun auch gemacht“, sagt sie. Ein
Restaurant hatte ihr einen Job als Putzhilfe zugesagt. Doch der Betreiber
meldete sich nicht mehr. Als sie Tage später vorbeischaute, arbeitete dort
eine marokkanische Frau. „Die Menschen hier sind rassistisch. Sie wollen
mich nicht einstellen, weil ich schwarz bin.“ Jetzt stellt sich Cora
tagsüber mit Kind im Arm an eine Ampel und streckt die Hand aus. Das Geld
reicht gerade zum Überleben. Wenn die Lage in Tanger sicherer ist, will
Cora zurück in den Norden. Und von dort über das Mittelmeer nach Europa.
1 Jun 2019
## AUTOREN
Nora Noll
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