# taz.de -- Ein besonderer Typus | |
> Benjamin, Adorno oder Arendt – Alfons Söllner sucht den Wissenschaftler | |
> als „Political Scholar“ | |
Von Detlev Claussen | |
Auf Alfons Söllners Beitrag zur „Intellektuellengeschichte des 20. | |
Jahrhunderts unter dem Titel „Political Scholar“ durfte man gespannt sein; | |
denn schließlich hat sich Söllner vor allem als unermüdlicher Erforscher | |
der intellektuellen deutschen Emigration über die letzten Jahrzehnte einen | |
Namen gemacht. Er selbst ist zu einem Wegbereiter der „intellectual | |
history“ geworden, die der altdeutschen Geistesgeschichte den Rang | |
abgelaufen hat. Zur Begründung einer Politikwissenschaft als einer | |
„Demokratiewissenschaft“ schien eine moderne Ideengeschichte geradezu | |
geeignet. Der „Political Scholar“ könnte am Schnittpunkt zwischen | |
europäischer Philosophie und US-amerikanischer Sozialwissenschaft | |
angesiedelt werden, politisiert durch die Erfahrung der Emigration. | |
Auf niemand anderen passt diese Beschreibung so gut wie auf Franz L. | |
Neumann, den 1900 in Kattowitz geborenen Juristen, der, politisiert durch | |
die Novemberrevolution, zu einem der wichtigsten Arbeitsrechtler und | |
Berater der Gewerkschaften in der Weimarer Republik wurde. Vor den Nazis | |
floh er nach England, absolvierte ein sozialwissenschaftliches Studium und | |
kam 1936 an der Columbia beim emigrierten Institut für Sozialforschung | |
unter. Mit Herbert Marcuse freundete er sich an, gemeinsam arbeiteten sie | |
im Zuge des War Effort beim Geheimdienst OSS in Washington. Neumann | |
arbeitete den Anklägern bei den Nürnberger Prozessen zu. Seine Erkenntnisse | |
über Deutschland nutzte er zur ersten umfassenden Studie über den | |
Nationalsozialismus, dem kürzlich wieder veröffentlichten „Behemoth“. | |
Söllner charakterisiert ihn als Archetypus seines „Political Scholar“. | |
Neumann erfuhr eine wesentliche Prägung im Kreis der Kritischen Theoretiker | |
um Max Horkheimer am New Yorker Institute for Social Research. Das Bild auf | |
dem Cover von Söllners Buch zeigt ihn mit den Kollegen Löwenthal und | |
Marcuse und ihren Ehefrauen in New York. Marcuse könnte man sicher auch als | |
einen Political Scholar beschreiben, aber Söllner widmet lieber Leo | |
Löwenthal zwei Essays. Merkwürdigerweise ist er nicht dem Political Scholar | |
Löwenthal auf der Spur, sondern dem jungen theologisch Interessierten und | |
dem späteren Literatursoziologen. Das Interesse Löwenthals an der jüdischen | |
Religion gehörte wie sein jugendlicher Zionismus zur Rebellion gegen das | |
Elternhaus. Intellektuell konstitutiv war die frühe Freundschaft mit | |
Kracauer und Adorno, nicht die Bekanntschaft mit Martin Buber. Den | |
politischen Rahmen, in dem Löwenthal sich entwickelte, bildete die | |
Kritische Theorie, die in den dreißiger Jahren von Max Horkheimer geprägt | |
wurde. Ohne diese Beziehung auf die Kritische Theorie verliert Löwenthal | |
sein politisches Profil. In diesem Kontext entstand auch die Studie | |
„Prophets of Deceit“, die gerade von der New York Times zur Analyse der | |
Trump-Wähler wiederentdeckt wurde. | |
Der Titel „Political Scholar“ verspricht mehr, als das Buch hält. Die hier | |
versammelten Aufsätze sind Nebenprodukte von Söllners Forschungsinteressen | |
zur politischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Söllner fokussiert sich | |
jeweils bloß auf Aspekte der porträtierten Personen. Der Vergleich von | |
Arendt und Adorno als Essayisten gerät besonders schief. Aus dem radikalen | |
Gesellschaftskritiker Adorno wird bei Söllner ein esoterischer | |
Kulturkritiker „im Land der Täter und ihrer Kinder“. | |
Der theoretische Bruch mit allen bisherigen Geschichtsauffassungen wurde | |
aber von Adorno 1944 mit Horkheimer in Kalifornien formuliert. Die | |
„Dialektik der Aufklärung“ bleibt auch für den nach Frankfurt | |
zurückgekehrten Adorno in allen seinen Essays der Bezugspunkt. In der | |
Reflexion auf die geschichtliche Katastrophe liegt der politische Kern der | |
Kritischen Theorie, in die auch Benjamins geschichtsphilosophisches | |
Testament eingebracht worden ist. | |
Hannah Arendt machte dieses Erbe Adorno streitig, doch für ihre Philosophie | |
war Benjamins Denken keineswegs entscheidend. Sie wirkte als politische | |
Essayistin ersten Ranges in der US-amerikanischen und deutschen | |
Öffentlichkeit. Kaum berührt davon, restituierte sie traditionelle Theorie | |
im Spannungsfeld von antiker Philosophie und deutscher Ontologie. Mit der | |
Reaktualisierung der griechischen Philosophie nach 1945 trifft sie sich mit | |
dem von Söllner hoch geschätzten Leo Strauss. Auch bei Strauss interessiert | |
sich Söllner eher für die politische Theologie der Weimarer Republik, nicht | |
die erzkonservative politische Philosophie aus der Zeit des Kalten Krieges, | |
die Strauss zum Helden der Neocons machte. | |
Zum Schluss kommt Söllner auf die westdeutschen „Political Scholars“ zu | |
sprechen. Am besten passt noch Jürgen Habermas als der öffentliche | |
Intellektuelle par excellence in Söllners Bild. Anders als die skizzierten | |
Schelsky und Sontheimer hat Habermas zur Entprovinzialisierung der | |
Bundesrepublik beigetragen. Nach der Lektüre bleibt ein fader Beigeschmack. | |
Es ist, als habe man in einen Kessel Buntes hineingelangt. Ist der | |
„Political Scholar“ wirklich ein besonderer Typ oder könnte es nicht jeder | |
Gesellschaftswissenschaftler sein, der sich politisch äußert? | |
Alfons Söllner:„Political Scholar“. EVA, Hamburg 2019, 309 S., 24,80 Euro | |
17 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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