# taz.de -- Wem gehört Siemensstadt 2.0? | |
> Der Konzern will ein neues Stadtviertel schaffen – den „Siemens-Campus“. | |
> Was das genau sein soll, weiß noch niemand. Aber das Land investiert viel | |
> Geld – und viele BewohnerInnen der alten Siemensstadt hoffen auf eine | |
> Belebung des Kiezes | |
Bild: Sinnbild des alten Industriestandorts: das Wernerwerk-Hochhaus, ein Büro… | |
Von Katharina Schmidt (Text) und Christian Jungeblodt (Fotos) | |
Der Industriegigant Siemens errichtete vor einhundert Jahren seinen | |
Berliner Arbeitern ein eigenes Wohnquartier dicht an den Werkskolonien | |
zwischen Charlottenburg und Spandau. In der auf den sumpfigen Nonnenwiesen | |
hochgezogenen Siemensstadt waren Arbeit, Wohnen und Privatleben untrennbar | |
mit dem Namenspatron verwoben. | |
Ingrid Lottenburger, 1933 am Schuckerplatz geboren, erlebte die Hochphase | |
der industriellen Siemensstadt noch mit. Ihr Vater arbeitete im Dynamowerk | |
und wirkte später als NSDAP-Ortsgruppenleiter – „was ich nie verstehen | |
konnte“, erinnert sich Lottenburger bei einem Besuch im Garten ihres | |
Elternhauses. | |
Nach dem Krieg vermittelte ihr der Vater eines Freundes ein Praktikum im | |
Schaltwerk. „Es war damals nicht leicht, als Frau bei Siemens einen Job zu | |
bekommen.“ Als sie ihr Studium zur Diplomkauffrau abgeschlossen hatte, | |
wurde sie Abteilungsleiterin im Versand, wo sie unbedingt hinwollte, um | |
möglichst viele Lkw-Fahrer kennenzulernen, die sie mit auf Fernreise nehmen | |
sollten. „Ich wollte die Welt erobern und hatte wenig Geld“, erzählt sie | |
lachend. Später zog es sie in die Politik, sie wurde Abgeordnete der | |
Alternativen Liste und wirkte bei der Gründung der taz mit. Seit dem Tod | |
ihres Mannes lebt die Rentnerin wieder im Haus ihrer Eltern. | |
Allerdings erinnert hier nur noch wenig an das Viertel ihrer Kindheit. Nach | |
dem Mauerfall baute der Konzern seinen Berliner Industriestandort nach und | |
nach ab. Eine Nachbarin von Lottenburger, die während des Gesprächs im | |
Garten dazukommt, freut sich daher, dass Siemens zu seinen Ursprüngen | |
zurückkehren will: „Der Siemens-Campus wird viel verändern – aber zum | |
Guten.“ | |
## Die smarte City | |
Im Oktober 2018 erklärten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) | |
und der Siemens-Vorstand Cedrik Neike feierlich die Rückkehr der Siemens AG | |
nach Berlin. Auf rund 70 Hektar Firmengelände, die 60 Prozent der | |
Siemensstadt ausmachen, sollen Gewerbeflächen für Start-ups und Firmen aus | |
der Tech-Branche sowie 3.000 neue Wohnungen entstehen. Dafür will Siemens | |
in den nächsten zehn Jahren 600 Millionen Euro aufgeben. | |
Verschlagwortet ist das Ganze als Siemens-Campus, mit dem die sogenannte | |
Industrie 4.0 in Berlin vorangetrieben werden soll. Darunter sind selbst | |
denkende, untereinander kommunizierende Maschinen – Internet der Dinge | |
genannt – zu verstehen, die in Zukunft die industriellen Fertigungsprozesse | |
weitgehend übernehmen werden. Die künstliche Intelligenz wird sich zudem | |
mit den geplanten 70.000 Quadratmeter Neubau verschränken, um eine | |
intelligente Wohn- und Stadtstruktur zu schaffen, in der beispielsweise | |
Autos selbstständig fahren können oder die Raumtemperatur in den Häusern | |
automatisch reguliert wird. | |
Was jedoch mit einer smarten, hoch technologisierten Stadt- und | |
Infrastruktur konkret auf die BewohnerInnen zukommt, lässt sich schwer | |
absehen, da es in Deutschland keine vergleichbaren Stätten gibt. Zwar baut | |
Siemens seit 2016 einen Campus in Erlangen, doch steckt dieser noch in den | |
Kinderschuhen. | |
Katalin Gennburg, Abgeordnete der Linkspartei, und deren Expertin für | |
Stadtentwicklung, blickt bei der Frage nach der Zukunft ins kanadische | |
Toronto, wo sich derzeit sogenannte Sidewalk Labs bilden. Dort werden | |
intelligente Technologien im Bereich Mobilität und Energieverbrauch für | |
künftiges Wohnen getestet. In der Kritik stehen die Sidewalk Labs vor allem | |
wegen der ungeklärten Frage, was mit den für die Testungen erhobenen Daten | |
passiert. | |
Gennburg kritisiert, die neuen SmartCity-Modelle seien lediglich | |
„Messe-Showrooms von Tech-Unternehmen, die als Renditemodelle zu Wohnraum | |
verbaut werden“. Diese „Rundum-sorglos-Welt mit Alexa-Wanze und Tablet“ | |
habe wenig mit dem Traum von selbstorganisierten Automatisierungsprozessen | |
zu tun, die nach den Wünschen der BewohnerInnen programmiert sind. Was mit | |
der bestehenden Siemenssiedlung geschehen wird, könne zudem niemand richtig | |
einschätzen, „da wenig aus den Verträgen bekannt ist“. Gennburg befürcht… | |
der Campus könne zu einer Gentrifizierung des ganzen Kiezes führen, weshalb | |
sie die sofortige Einführung eines Milieuschutzgebietes fordert, um die | |
derzeitigen BewohnerInnen zu schützen. | |
Das Silicon Valley bei San Francisco ist schon länger eine Gegend voller | |
Unternehmen, die Zukunftstechnologien entwickeln, inklusive hochmoderner | |
Wohnquartiere. Die Region, in der rund 70 Milliardäre leben, hat aufgrund | |
seiner hohen Zahl von Obdachlosen allerdings auch die besorgte | |
Aufmerksamkeit der United Nations (UN) geweckt. Die Frage, ob der | |
Siemensstadt eine ähnliche soziale Spaltung droht, verneint | |
Siemens-Sprecher Yashar Azad gegenüber der taz. „Die prekäre Situation | |
vieler Bewohner des Silicon Valley ist entstanden, weil sie keine Teilhabe | |
hatten.“ | |
Bei einem Bürgergespräch im Büro der Bundestagsabgeordneten Evrim Sommer | |
(Linke) sicherten Azad und Karina Rigby, Projektleiterin der Siemensstadt | |
2.0, zu: „Wir werden kein Ufo in die Siemensstadt reinbauen.“ Bei der | |
Planung der neuen SmartCity seien „extrem viele Instanzen“ der | |
Zusammenarbeit mit den Bürgern vorgesehen, etwa „Let’s talk“-Runden und | |
Werkstattgespräche, erklärte Rigby. „Siemens wird Schulter an Schulter mit | |
der Stadt zusammenarbeiten.“ | |
Das Land Berlin hat eine halbe Milliarde Euro für den infrastrukturellen | |
Ausbau in der Siemensstadt zugesichert, wie kürzlich bekannt wurde. | |
Finanziert werden soll damit auch die Reaktivierung der alten | |
Siemensbahntrasse, damit die neuen Fachkräfte des Campus den Flughafen BER | |
in unter 40 Minuten erreichen. Zudem hat der Senat Siemens den schnellen | |
Ausbau des neuen Mobilfunkstandards 5G fest zugesagt. | |
Ein teurer Deal – zumal Rigby und Azad bei dem Bürgergespräch klarstellten, | |
dass keine neuen Arbeitsplätze in der Fertigung vorgesehen sind. „Es muss | |
erst etwas entstehen, um überhaupt neue Arbeitsplätze zu schaffen“, | |
erklärte Rigby. | |
Lars Schmitz, 44, ist Mitarbeiter des Stadtteilzentrums in Siemensstadt und | |
täglich im Kontakt mit den BewohnerInnen. Er findet, die von Siemens | |
angekündigte Bürgerbeteiligung müsse substanzieller werden. „Der | |
angekündigte Namenswettbewerb für die Siemensstadt 2.0 ist zwar schön, | |
reicht jedoch nicht aus.“ Er wünscht sich ein Mitspracherecht zur konkreten | |
Gestaltung des Campus-Geländes, das laut den Siemenssprechern für alle | |
offen sein soll. | |
Immerhin hat Schmitz noch keine Fundamentalkritik am Siemens-Campus seitens | |
der AnwohnerInnen gehört. „Das würde auch nicht passen“, erklärt er. | |
Siemensstadt ticke anders als zum Beispiel Kreuzberg, wo er selbst lebt. Er | |
ist sicher, „wenn Google in Siemensstadt eröffnen würde, wäre der | |
grundsätzliche Tenor erst mal gut“. | |
## Schulplätze fehlen | |
Die Angst vor Verdrängung durch Siemens ist in seinen Augen nur zum Teil | |
berechtigt. „Es war schon vor Siemens so, dass man hier keine Wohnung mehr | |
kriegt. Jedoch könnte das durch den Campus verschärft werden.“ Weiteren | |
Unmut könne es geben, wenn die ohnehin ausgelastete Infrastruktur nicht | |
mitwächst. Neben den Siemens-Neubauten planen private und städtische | |
Wohnungsbauunternehmen weitere 3.700 Wohnungen auf der Insel Gartenfeld. | |
Aber schon jetzt fehlt es an Kita- und Schulplätzen, und die schlecht | |
angebundenen Busse seien ohnehin überlastet, so Schmitz. | |
Nichtsdestotrotz sieht er in dem Bewohnerzuwachs „eine Chance, dass der | |
Kiez lebendiger wird“. Denn außer essen gehen könne man hier tatsächlich | |
nicht viel. Dass die Siemensstadt 2.0 an die frühere Verbundenheit von | |
Wohnen und Arbeiten wie vor hundert Jahren anknüpfen wird, glaubt Schmitz | |
allerdings nicht. „Die treibende Kraft für Identifikation sind | |
Arbeitsplätze, und das steht für Siemens nicht im Fokus.“ | |
Zu den immer weniger Werdenden, die weiter bei Siemens wohnen und arbeiten, | |
zählt der 57-jährige Berthold Schäde. Den gelernten Speditionskaufmann zog | |
es in den 80ern von Straßburg nach Westberlin, wo er im Röhrenwerk eine | |
Anstellung fand. Er fühlt sich in Siemensstadt pudelwohl, wie er bei einem | |
Spaziergang erzählt. „Man hat ja hier alles. U-Bahn, Supermärkte, der Park | |
liegt um die Ecke, und ich laufe nur zehn Minuten zur Arbeit – besser kann | |
es einem nicht passieren“, findet er. Nur ein Lokal, in dem er ein | |
„gepflegtes Bier“ trinken könne, gebe es leider nicht. | |
Schädes Lieblingsplatz liegt direkt vor seinem Haus. Ein kleines | |
Parkrondell mit Brunnen in der Mitte, wo er sich nach Dienstschluss mit | |
seinen Kumpels zu Zigarre und Bier trifft. Hinsichtlich des Siemens-Campus | |
ist Schäde positiv gestimmt, er macht sich wenig Sorgen. Er habe dem | |
Konzern sogar angeboten, als Mittler aufzutreten, erzählt er, „doch die | |
wollen das selbst machen“. | |
Um die Integration von Menschen wie Ingrid Lottenburger und Berthold Schäde | |
in die SmartCity-Vision von Siemens zu voranzutreiben, hat die | |
Bundestagsabgeordnete Sommer eine Planungswerkstatt ins Leben gerufen, die | |
im April zum ersten Mal tagte. Hier sollen Bedürfnisse und Vorstellungen | |
von BewohnerInnen erarbeitet werden, um sie an Senat und Siemens | |
weiterzuleiten. Noch in diesem Jahr soll der städtebauliche Wettbewerb | |
ausgeschrieben werden, für den Bebauungsplan wird | |
Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) zuständig sein. | |
In der Runde aus engagierten Siemensstädtern bestätigt sich der Eindruck | |
einer grundlegend offenen Einstellung für Siemens. An die Rückkehr des | |
Konzerns ist etwa die Hoffnung eines breiteren kulturellen Angebots oder | |
der Ansiedlung von Biomärkten und familienfreundlicheren Cafés geknüpft. | |
Gerade kleinere Geschäfte wie Modeläden seien in den letzten Jahren weniger | |
geworden, klagt eine Anwohnerin. | |
Ganz ohne Vorbehalte sind die Anwesenden aber nicht. Ein junger Architekt, | |
der vor fünf Jahren zugezogen ist, fürchtet eine „Insel in der Insel“, da | |
Siemensstadt ohnehin durch Flughafenzäune und Spree eingegrenzt sei. Eine | |
andere Siemensstädterin spricht offen die Befürchtung des Sozialneids an, | |
wenn bald Hochqualifizierte und Besserverdienende in die neue Siemensstadt | |
ziehen. | |
27 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schmidt | |
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