# taz.de -- Schönes Europa – nur eine Illusion? | |
> Der Gabuner Soziologe Joseph Tonda kommt zum taz lab und spricht über | |
> Migration, den vielschichtigen Begriff der Afrodystopie und afrikanische | |
> Vorstellungen von Europa | |
Bild: Sieht das dystopisch aus? Gabuner Jugendliche in der Nähe von Libreville… | |
Interview Gina Bucher und Nora Strassmann | |
taz am wochenende: Joseph Tonda, Migration ist ein zentrales Thema Ihrer | |
Forschung. Was bedeutet Migration für Afrika? | |
Joseph Tonda: Die Bedeutung von Migration ist nicht für alle gleich. Der | |
Traum, nach Europa zu gehen und auf dem Territorium der ehemaligen | |
Kolonialmacht zu leben, wird von fast allen Mitgliedern der afrikanischen | |
Gesellschaften geteilt. Aber die Mittel zur Verwirklichung dieses Traums | |
sind sehr ungleich verteilt. Gleichzeitig muss man bedenken, dass der | |
größte Teil afrikanischer Migration in Afrika selbst stattfindet. Viele | |
junge Menschen wandern aus, weil die Regierenden unfähig sind, ihnen die | |
Arbeit zu geben und den Wohlstand, den sie sich wünschen. | |
Sie schreiben gerade ein Buch über Afrodystopie, können Sie den Begriff | |
näher erklären? | |
Der Begriff ist sehr vielschichtig. In dem Begriff steckt zum Beispiel die | |
Geschichte der Versklavung, die historische Kolonialisierung sowie die | |
aktuelle Neokolonialisierung. Und: Afrodystopie ist heute realer denn je. | |
Wie meine Sie das? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem von Ihnen | |
geprägten Begriff der Afrodystopie und Migration? | |
Migration ist für mich ein afrodystopisches Konzept par excellence. | |
Auswanderung ist eine direkte Antwort auf prekäre Lebensbedingungen, die | |
durch das Eingreifen multinationaler Konzerne produziert worden sind. In | |
Zusammenarbeit mit den Eliten rauben diese Konzerne den Wohlstand der | |
Nationen. Ein wichtiges Ziel des Konzepts der Afrodystopie ist es | |
aufzuzeigen, dass über die Probleme der Bevölkerungen nicht gesprochen | |
wird. Es ist schon sehr verwunderlich, dass sowohl in Afrika als auch in | |
Europa immerzu über Einwanderung, nicht aber über Auswanderung und deren | |
Gründe gesprochen wird. | |
Welche Bilder von Europa existieren in Gabun? | |
In Gabun, wie auch in anderen ehemaligen französischen Kolonien, sind die | |
Vorstellungen von Europa geprägt durch Bilder der alten Kolonialmacht | |
Frankreich. Sie kennzeichnen sich einerseits durch das Bewusstsein, dass | |
die Kolonialisierung kein Ende gefunden hat. Andererseits ist Frankreich | |
Vorbild und Projektionsfläche für Wünsche nach Freiheit, Sicherheit und | |
materiellem sowie intellektuellem Reichtum. | |
Wie ist es möglich, dass Frankreich zwei derart verschiedene Dinge | |
repräsentiert? | |
In den sozialen Netzwerken hier in Gabun wird Frankreich als Land | |
dargestellt, wo afrikanische Aktivist*innen aus Gabun, dem Kongo oder | |
Kamerun öffentlich gegen die Regierenden ihrer Länder protestieren. | |
Gleichzeitig werden diese Diktatoren, die ihre Leute unterdrücken, von | |
Frankreich unterstützt. Das ist ein großes Paradox. | |
Können Sie das erläutern? | |
Ali Bongo, der aktuelle Präsident des Gabun seit 2009, ist der Sohn von | |
Omar Bongo, welcher 42 Jahre an der Macht war. Es handelt sich also um ein | |
und dieselbe Familie, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in Gabun | |
regiert. Von ihm und anderen Präsidenten afrikanischer Länder wird | |
erwartet, dass sie die Interessen der multinationalen französischen | |
Konzerne schützen. Allem voran in Hinblick auf Erdöl. | |
Inwiefern ändert die Migrationserfahrung der Afrikaner*innen ihren | |
Blick auf Europa? | |
Viele Afrikaner*innen leben in Frankreich unter ganz anderen Umständen, als | |
sie es sich erträumt haben. Sie erleben rassistische Anfeindungen und | |
wollen zurück nach Afrika. Das heißt Europa ist zuerst eine Utopie. Aber | |
die Erfahrung des körperlichen und psychischen Leidens macht daraus eine | |
Dystopie. Dieses komplexe Bild wird in meinem Begriff der Afrodystopie | |
gefasst. | |
Aus dem Französischen von Nora Strassmann | |
taz lab: 16.15 Uhr, Aquarium. | |
30 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Gina Bucher | |
Nora Strassmann | |
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