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# taz.de -- AngstvorMachtverlust
> Obwohl bei den Kommunalwahlen am 31. März in der Türkei
> Bürgermeister*innen gewählt werden, führt Präsident Erdoğan persönlich
> Wahlkampf im ganzen Land. Warum?
Bild: Die Türkei bereitet sich auf die Kommunalwahl am Sonntag vor
Von Gülten Sarı
Am Sonntag, dem 31. März, werden Bürgermeister*innen und
Regionalverwaltungen in der Türkei gewählt. Das ist die siebte Wahl
innerhalb der letzten fünf Jahre. Präsident Recep Tayyip Erdoğan schultert
seit Monaten den gesamten Wahlkampf der AKP und zieht von Kundgebung zu
Kundgebung. Neben den Großstädten tritt er auch auf
Wahlkampfveranstaltungen in Kreisstädten auf, sodass sich die
Kommunalwahlen anfühlen, als wären sie Parlamentswahlen.
Bürgermeisterkandidat*innen der Oppositionsparteien drohte er für den Fall
ihrer Wahl die Absetzung an.
In den vergangenen Jahren nutzte die Regierung sämtliche staatlichen
Ressourcen für ihre Propaganda, sie ließ oppositionelle Politiker*innen
einsperren und verhinderte mit einem Massenaufgebot von Sicherheitskräften
in den Wahllokalen, dass die Abstimmung transparent verläuft. Unter einer
solchen Repression stattfindende Wahlen können nicht fair sein. Warum sind
diese Wahlen so wichtig für die Türkei?
## Der Rückhalt in der Bevölkerung sinkt
Mit dem offiziellen Inkrafttreten des Präsidialsystems bei den Wahlen vom
24. Juni 2018 begann Recep Tayyip Erdoğan, das Land allein zu regieren. Auf
der Vorstandssitzung der Regierungspartei AKP erklärte er im Januar, das
aus AKP und MHP gebildete Volksbündnis dürfe nicht unter 52 Prozent fallen.
Zur Begründung führte er an, verhindern zu müssen, dass das von ihm
modifizierte System durch Opposition und Volk infrage gestellt wird.
Denn bei den Präsidentschaftswahlen am 24. Juni hatte Erdoğan 52,6 Prozent
geholt und das Volksbündnis bei den gleichzeitig stattfindenden
Parlamentswahlen 53,7 Prozent. Laut einer Meinungsumfrage der
Kadir-Has-Universität vom 12. Dezember 2018 bis 4. Januar 2019 ist die
allgemeine Zustimmung für Erdoğan nun von 49,7 auf 33,6 Prozent abgestürzt.
Das liegt mitunter daran, dass die Türkei seit einer Weile tief in einer
Wirtschaftskrise steckt: Die Arbeitslosigkeit ist auf 11 Prozent gestiegen,
die Inflationsrate liegt bei fast 20 Prozent und die Wirtschaft rutschte im
letzten Quartal 2018 in die Rezession. Da für 51,1 Prozent der Befragten
die wirtschaftlichen Probleme ganz oben auf der Tagesordnung stehen,
erwarten Expert*innen, dass die Unterstützung für Erdoğan mit der
Verschärfung der Wirtschaftskrise weiter zurückgeht.
Die AKP, die das Land seit 17 Jahren regiert, fürchtet, ein
Legitimitätsproblem zu bekommen, falls sie jetzt bei den Wahlen Metropolen
wie Istanbul, Ankara, Bursa oder Antalya verliert. Erdoğan glaubt, wenn die
Opposition gestärkt aus den Kommunalwahlen hervorgeht, könnte sie Druck
machen, zum parlamentarischen System zurückzukehren oder vorgezogene
Neuwahlen anzusetzen. Deshalb droht er Bürgermeisterkandidat*innen der
anderen Parteien und zettelt persönliche Polemiken gegen sie an.
Innenminister Süleyman Soylu setzte noch eins drauf, als er am 25. März bei
einer Rede in Istanbul sagte: „Ich bin der Innenminister, wollen wir doch
einmal sehen, ob diese PKKler ihre Ämter überhaupt antreten können, wenn
sie gewählt werden.“
Die HDP ist solche Drohungen gewohnt. Mit der Einsetzung von
Zwangsverwaltern seit dem 1. September 2016 wurden 95 von
HDP-Bürgermeister*innen geführte Kommunen an AKP-Verwalter übertragen. Zur
Zeit sitzen 40 HDP-Bürgermeister*innen hinter Gittern. Erklärtes Ziel der
HDP ist es deshalb, den Willen von Millionen Menschen, die sie gewählt
haben, umzusetzen und die von Zwangsverwaltern besetzten Kommunen
zurückzuholen, „und sei es für einen Tag“.
## Die Opposition will die Kommunen zurückholen
Die HDP beschloss, für die Wahlen am Sonntag in insgesamt 49 Provinzen,
darunter auch die Metropolregionen Istanbul, Ankara und Izmir, keine
eigenen Kandidat*innen aufzustellen. Damit sollen die Chancen der
Kandidat*innen des Nationalbündnisses aus CHP, İYİ-Partei und Saadet-Partei
erhöht werden, die gegen das AKP-MHP-Volksbündnis antreten. AKP und die
Medien an ihrer Seite signalisieren indes, dass die unterschwellig von der
HDP unterstützten CHP-Kandidat*innen ihre Ämter auch dann nicht bekommen,
wenn sie gewählt werden sollten. Das betrifft vor allem Mansur Yavaş, der
laut Umfragen in Ankara vorn liegt. Laut Wahlkommission hindert aber weder
Yavaş noch sonst eine*n Kandidat*in irgendetwas daran, ins Amt gewählt zu
werden.
Die HDP-Kandidat*innen werden von der Regierung unmittelbar zu
Terrorist*innen erklärt, die anderen Parteien als „Unterstützer des
Terrors“ gebrandmarkt. Das hindert die Oppositionsparteien daran, wie bei
den Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 ein öffentlich erklärtes Bündnis
einzugehen, und bringt sie dazu, eine indirekte, zurückhaltende
Wahlkampfstrategie zu verfolgen.
Die Oppositionsparteien, insbesondere die HDP, sind zwar quasi
ausgeschlossen von Entscheidungsmechanismen, dennoch wollen sie in ihrem
begrenzten Handlungsspielraum mit Unterstützung der Bevölkerung die
Kommunalwahlen gewinnen und den ihnen verbliebenen Legitimitätsraum
erweitern. Auch wenn die Regierung mit Polizei, Armee und Justiz die
Kontrolle noch so sehr in Händen hält, ist Erdoğan in Sorge, dass die AKP
und die Regierung ihre Macht verlieren könnten, wenn sie bei den
Kommunalwahlen den Rückhalt in der Bevölkerung einbüßen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
30 Mar 2019
## AUTOREN
Gülten Sari
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