# taz.de -- Reproduktionsrechte in der Türkei: Ihr Körper, die Entscheidung d… | |
> Der Staat greift in die körperliche Selbstbestimmung von cis- und | |
> trans-Frauen ein: Die einen sollen nicht abtreiben, die anderen keine | |
> Kinder bekommen. | |
Bild: Auch trans Frauen können Mutter sein | |
Der systematische Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung von Frauen | |
zeigt sich in der Türkei am stärksten in den Kontrollmechanismen ihrer | |
Fortpflanzungsorgane. Bei Entscheidungen in Bezug auf ihren eigenen Körper | |
sind Frauen in dem auf cis heterosexuelle Männer ausgerichteten | |
Gesundheitssystem die Verliererinnen. Während einige Frauen in ihrem Recht | |
auf Abtreibung und Schwangerschaftsverhütung beschnitten werden, ist der | |
Kinderwunsch und die körperliche Selbstbestimmung anderer Frauen in Gefahr. | |
Das Gesundheitssystem und die Gesetzgebung betreiben eine Politik gegen | |
trans und cis Frauen, die völlig im Kontrast zur feministischen Forderung | |
„mein Körper, meine Entscheidung“ steht. | |
Trans Frauen, die ihren Geschlechtseintrag in ihrem Ausweis verändern | |
wollen, werden mit einer Regierung konfrontiert, die in ihre reproduktiven | |
Rechte eingreift. Die Medizinstudentin Canan Yıldız* ist eine trans Frau, | |
die das Prozedere aus ihrer Berufspraxis und persönlicher Erfahrung kennt. | |
In medizinischen Seminaren zu Frauenrechten beobachtet sie, dass nur auf | |
cis Frauen bezogene Themen wie Mutterschaftsurlaub oder das Recht auf | |
Abtreibung diskutiert werden. Die Belange von trans Frauen hingegen werden | |
nicht thematisiert. | |
Ein Hauptgrund dafür sei, dass im Medizinstudium LGBTI-Personen nicht | |
vorkommen und die Absolvent*innen daher nichts über trans Personen wissen. | |
„Man könnte genauso gut jemanden von der Straße dazu befragen. Selbst die | |
Professor*innen haben keinerlei Kenntnisse“, sagt Yıldız. | |
In der Türkei sind trans Frauen, die einen neuen Personalausweis beantragen | |
wollen, gesetzlich dazu verpflichtet, eine geschlechtsangleichende | |
Operation vornehmen zu lassen. Yıldız beschreibt den beschwerlichen | |
Prozess: „Im Anschluss an die OP befinden die Gerichte häufig den | |
ärztlichen Bericht für unzulänglich und verlangen ein Zweitgutachten. Dabei | |
wird das Geschlechtsorgan der Person erneut untersucht, zum Beispiel in | |
Bezug auf die Tiefe der Vagina.“ | |
## Die Tiefe der Vagina entscheidet | |
Yıldız erinnert sich an einen Professoren, der in einer Vorlesung Dokumente | |
einer geschlechtsangleichenden OP zeigte und dabei über die Tiefe der | |
Vagina prahlte, die er rekonstruiert hatte. Und genau das sei die Frage, an | |
der sich Richter und Mediziner aufhängen: Ist die Vagina dieser Frau tief | |
genug, damit wir sie als solche identifizieren können? Die Medizinstudentin | |
erklärt, dass solche Nachuntersuchungen mehr und mehr zur Praxis würden und | |
diese Zentimeter-Vermessungen über einen neuen Ausweis entscheiden. Sie | |
vermutet, das hänge mit der Objektivierung von Frauen zusammen: | |
Entscheidend sei aus Sicht der Richter und Ärzte, ob die Frau in Zukunft | |
Männern sexuelle Dienste leisten könne. | |
Im März 2018 hat das türkische Verfassungsgericht den Zusatz in Paragraf 40 | |
des Zivilgesetzbuches gestrichen, nach dem trans Personen nicht | |
reproduktionsfähig sind. Allerdings lehnte das Gericht die Forderung ab, | |
die gesetzlich vorgeschriebenen Geschlechtsangleichungen abzuschaffen, was | |
in der Praxis zum selben Ergebnis führt: die Einschränkung der körperlichen | |
Selbstbestimmung. Nach wie vor ist also eine derart private Entscheidung | |
wie eine geschlechtsangleichende Operation Pflichtbedingung für einen neuen | |
Geschlechtseintrag. | |
In der Türkei können Geschlechtsangleichungen nur an staatlichen | |
Universitätskliniken durchgeführt werden, Gutachten von privaten Kliniken | |
erkennt das Gericht nicht an. Der Medizinstudentin Canan zufolge arbeitet | |
in Istanbul nur im Krankenhaus Cerrahpaşa eine fachkompetente Belegschaft, | |
die trans Frauen beraten und den Prozess begleiten kann. | |
Die Ärzt*innen in dem Krankenhaus seien allerdings immer weniger dazu | |
bereit trans Frauen medizinisch zu betreuen. Weil die Ärzt*innen keine | |
Termine mehr vergeben, sei es derzeit nahezu unmöglich eine | |
Geschlechtsangleichung zu beginnen. Die Studentin erlebt, wie trans Frauen | |
auf den Krankenhausfluren stundenlang auf die Ärzt*innen warten und sie | |
förmlich anflehen. Wenn eine dann einen Termin ergattere, dann nur unter | |
der Bedingung „es ja nicht den anderen zu erzählen“. „Wo sollen all diese | |
Frauen nur hin“, fragt sie. | |
## Die Vermessung des trans Körpers | |
Wer eine Geschlechtsangleichung vornehmen lassen will, muss sechs | |
verschiedene Gutachten einholen, bei der Gynäkologie, Urologie, | |
Psychiatrie, Genetik, Endokrinologie und der plastischen Chirurgie. Die | |
35-jährige Merve Çelik* erzählt von wiederholten Übergriffen in ihre | |
Intimsphäre. Am traumatischsten seien für sie die Erfahrungen bei der | |
Frauenärztin gewesen. „Sie haben mir sehr persönliche Fragen gestellt. Ob | |
ich mit jemandem zusammen sei oder Geschlechtsverkehr habe. Ich wusste auch | |
nicht, dass ich mich dort ausziehen muss“, sagt die | |
Lebensmittelingenieurin. | |
Çelik erzählt, sie habe sich mehrfach nackt ausziehen müssen, Dutzende | |
Medizinstudierende hätten sie begutachtet und angefasst. Auf ihre Frage, | |
was all das mit ihrer trans Identität zu tun habe, erhielt sie die Antwort: | |
„Auch wenn das nichts mit unserem Fachbereich zu tun hat, musst du der Form | |
halber hier durch.“ In der Urologie habe ihr der Arzt ohne Vorankündigung | |
an die Brust gefasst, das sei ihr extrem unangenehm gewesen. „Sie sagen, | |
zieh dich aus, und du ziehst dich aus. Sie fassen dich an den intimsten | |
Stellen an“, sagt Çelik. Als die Ärzte dann ihre Genitalien vermessen | |
wollten, habe sie sich geweigert und es ihnen nicht erlaubt. | |
Es kommt auch vor, dass ein Antrag auf Geschlechtsangleichung abgelehnt | |
wird. Die Gefängnisinsassin Buse, die in der geschlossenen Haftanstalt für | |
Männer in Tekirdağ einsitzt, befindet sich seit dem 31. Januar im | |
Hungerstreik. Sie fordert eine geschlechtsangleichende Operation, damit sie | |
in ein Frauengefängnis verlegt werden kann, doch das Gericht verwehrt ihr | |
das Prozedere mit der Begründung „Die OP ist Pflicht, hat aber keine | |
Dringlichkeit.“ | |
Frauen, die nicht abtreiben dürfen | |
Anderen Frauen wird währenddessen das Recht auf Abtreibung verweigert. | |
Gizem Saylan* ist Gynäkologin an einer Istanbuler Uniklinik, deren Namen | |
sie nicht in der Zeitung nennen will. Obwohl Abtreibungen bis zur zehnten | |
Schwangerschaftswoche legal seien, müsse sie Patientinnen grundsätzlich | |
zurückschicken. „Es gibt immensen Druck von oben. Unsere Vorgesetzten haben | |
uns angewiesen, Frauen zurückzuschicken, die einen Schwangerschaftsabbruch | |
wollen. Von wem sie ihre Anweisungen haben, weiß ich nicht. Ich vermute, es | |
kommt vom Oberarzt, vielleicht sogar vom Gesundheitsministerium“, sagt | |
Saylan. | |
Der Gynäkologin zufolge versuchen die betroffenen Frauen im Internet | |
Krankenhäuser zu recherchieren, die noch Schwangerschaftsabbrüche | |
durchführen. „Die Frauen, die zu uns kommen, tun das, weil sie sich ohnehin | |
keine andere Behandlung leisten können. Es ist sehr schwer mitanzusehen. | |
Doch auch wenn ich helfen wollte, es liegt nicht in meiner Macht“, sagt | |
sie. | |
Trotzdem gibt es noch Frauen, die in staatlichen Krankenhäusern abtreiben | |
können – wenn sich Bekannte einschalten, durch Kontakte also. Saylan | |
berichtet, dass in solchen Fällen in den Akten notiert werde, dass die | |
Schwangerschaft die Gesundheit der austragenden Frau gefährdet habe. Auf | |
diese Weise falle man nicht auf. | |
Deniz Şahin* ist eine dieser Frauen. Ihre erste Abtreibung hatte sie mit 19 | |
in einer Privatklinik, ihre zweite mit 31 in einem staatlichen Krankenhaus, | |
das war 2017. Beim ersten Mal kannte sie ihre Rechte nicht und weil sie | |
„jung und verzweifelt“ gewesen sei, habe sie die schlechte Behandlung des | |
Arztes über sich ergehen lassen. „Die Ultraschalluntersuchung war so | |
furchtbar, vor lauter Schmerzen habe ich nach der Hand des Arztes | |
gegriffen“, erzählt Şahin. | |
## Keine Abtreibung ohne Einverständnis des Mannes | |
Beim zweiten Mal war sie durch die Vermittlung einer befreundeten | |
Krankenpflegerin in einem staatlichen Krankenhaus. Diesmal hatte sie mehr | |
Zeit zu recherchieren und entschied sich gegen eine Privatklinik, in der | |
für den Eingriff 1.750 Lira verlangt werden. In staatlichen Krankenhäusern | |
sind Abtreibungen kostenfrei, allerdings werden Abtreibungen nur mit | |
örtlicher Betäubung durchgeführt. Şahin bekam zwar eine Vollnarkose, aber | |
nur, weil sie die Krankenpflegerin kannte. Sie erzählt, dass man versucht | |
habe, ihr die Abtreibung mit dem Argument auszureden, sie könne in Zukunft | |
vielleicht keine Kinder mehr bekommen. | |
Bei ihrer ersten Abtreibung habe man sie als erstes gefragt, ob sie | |
verheiratet oder liiert sei, sagt Şahin. Bei Frauen mit Partner wird eine | |
schriftliche Einverständniserklärung des Ehemannes oder Freundes verlangt. | |
Auch bei einer Durchtrennung der Eierstöcke brauchen Frauen das | |
Einverständnis ihrer Partner. Bei Männern, die eine Vasektomie durchführen | |
lassen wollen, werde hingegen nicht das Einverständnis ihrer Partnerinnen | |
benötigt, sagt die Gynäkologin Gizem Saylan. | |
Die Durchtrennung von Eierstöcken sei bei Frauen, die bereits Kinder haben | |
und keine hormonelle Verhütung wünschen, die beste Verhütungsmethode. Aber | |
ihrer Erfahrung nach wollen meist die Partner weder diesem Eingriff | |
zustimmen noch Kondome benutzen. Auf diese Weise sind die | |
Reproduktionsrechte von Frauen gänzlich abhängig von der Kontrolle ihrer | |
Ehemänner. | |
Frauen, die in der Ehe vergewaltigt werden oder aus anderen Gründen nicht | |
die Zustimmung für eine Abtreibung durch ihre Ehemänner bekommen, nehmen | |
Saylan zufolge vermehrt die Abtreibungspille. „Dieses Medikament bekommt | |
man für 300 bis 400 Lira unter der Hand, niemand schert sich darum, ob sie | |
tatsächlich zugelassen oder gefälscht sind“, sagt sie. Die Zahl der | |
Patientinnen, die diese Tabletten nehmen, sei gestiegen. Das sei anhand der | |
Fehlgeburten zu erkennen, da die Frauen nach Einnahme der Tabletten ins | |
Krankenhaus eingeliefert werden und die Abtreibung dort zu Ende geführt | |
wird. | |
## Wer Kinder bekommen darf, entscheidet der Staat | |
Auch trans Frauen nehmen rezeptfreie Medikamente zu sich, da sich eine | |
Hormontherapie unter ärztlicher Aufsicht erschwert hat. Die Vorschrift | |
einer psychiatrischen Behandlung von sechs Monaten bis zu zwei Jahren | |
erschwert das Leben vieler trans Frauen. In einer Realität, in der für sie | |
bereits die Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten, Arbeit und | |
Ausbildung ein Problem darstellt, entscheiden viele sich für leicht | |
zugängliche Hormonpräparate, die sie rezeptfrei in Apotheken kaufen. | |
Die türkische Regierung, die cis Frauen ihr Abtreibungsrecht verwehrt, | |
nimmt zugleich trans Frauen das grundsätzliche Recht auf Fortpflanzung und | |
Mutterschaft. In staatlichen Krankenhäusern gibt es für trans Frauen keine | |
Möglichkeit Spermien einzufrieren. Merve Çelik* begann ihre | |
Geschlechtsangleichung, ohne zuvor Spermien einfrieren zu lassen, da sie im | |
Vorfeld nicht ausreichend informiert wurde. Trotz allem, was sie erlebt | |
habe, empfindet sie es als „die größte Ungerechtigkeit“. Eine Freundin von | |
Çelik ließ für 1.700 Euro auf Zypern ihre Spermien einfrieren. Allerdings | |
sind bis dato die Mutterschaftsrechte von trans Frauen in der Türkei nicht | |
geklärt. | |
Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden, werden in ihrem Recht auf | |
Abtreibung beschnitten und sind gezwungen hohe Summen in Privatkliniken zu | |
zahlen, während andere Frauen, die sich Kinder wünschen und daran gehindert | |
werden, ebenso hohe Summen für ihre Reproduktion aufbringen müssen. | |
Die Menschenrechtsanwältin Sinem Hun sagt, es gebe die „verbotenen | |
weiblichen Körper“, von denen der Staat nicht will, dass sie sich | |
vermehren. Und die anderen, die sich unter seiner Kontrolle im Rahmen | |
seiner eigenen Vorstellungen fortpflanzen sollen. Daher sei es von großer | |
Bedeutung, dass sich die Frauenbewegung der Reproduktionsrechte aller | |
Frauen annimmt. Das Verständnis der staatlichen Körperpolitik, deren Praxis | |
und Parallelen in Bezug auf die verschiedenen Frauengruppen könnte | |
aufschlussreich für einen umfassenderen Kampf für die körperliche | |
Selbstbestimmung von Frauen sein. | |
* Name von der Redaktion geändert | |
Aus dem Türkischen von Canset İçpınar | |
8 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Burcin Tetik | |
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