Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schießerei in Utrecht: Die Leere nach den Schüssen
> Drei Menschen wurden in Utrecht bei einer Schießerei getötet. Die
> Anwohner*innen wollen sich von der Tat nicht verängstigen lassen.
Bild: Arbeiter legen Blumen an einer Trambahnhaltestelle in Utrecht ab
Utrecht taz | Es ist 9.29 Uhr an diesem lichten Dienstagmorgen, als Sani
die zwei Automatiktüren nach draußen für heute in Betrieb nimmt. Die junge
Frau aus Bulgarien schaukelt ihren neugeborenen Sohn Armin sachte im Arm,
dann bietet sie leichtgesüßten Tee aus dem Samowar an.
Durch die großen Scheiben des „huis van vrede“, des „Haus des Friedens�…
gelegen im Utrechter Stadtviertel Kanaleneiland, schiebt sich die Sonne
zögerlich herein. Draußen, vor diesem evangelischen Begegnungszentrum,
hantiert ein niederländisches Fernsehteam mit viel Technik. Hastig kommt
eine Frau aus dem Team herein, fragt nach der Toilette und ist flugs wieder
draußen, Bilder einfangen.
Die viertgrößte niederländische Stadt ist am [1][Montagvormittag Ort eines
Anschlags geworden], der drei Tote und fünf zum Teil schwer Verletzte
gefordert hat. Das Motiv des Täters für die grausamen Schüsse in einer
städtischen Straßenbahn ist auch 36 Stunden nach der Tat immer noch unklar.
Der mutmaßliche Täter, der türkischstämmige Gökmen Tanis wurde am
Montagabend bei einer Hausdurchsuchung gefasst. Doch was hat ihn dazu
gebracht, in einer Tram drei Menschen umzubringen? Und was ist mit den
beiden anderen Festgenommenen, die auch am Dienstagnachmittag noch
vernommen wurden?
## Vieles deutet zunächst auf einen Terroranschlag hin
Am Montag war zunächst von Terror die Rede, Alarm wurde geschlagen, die
Menschen zum Verbleiben in ihren Häusern und Wohnungen aufgefordert. Dann
hieß es, möglicherweise handele es sich um eine Beziehungstat.
Am Dienstagmorgen wird bekannt, dass die Polizei in einem von dem
mutmaßlichen Täter gestohlenen Fluchtauto einen Brief gefunden hat, dessen
Inhalt doch auf ein terroristisches Motiv des 37-Jährigen hindeutet. Was in
dem Schreiben steht, wird nicht bekannt. Zugleich erklären Polizei und
Staatsanwaltschaft, dass sie „keinerlei Verbindungen“ zwischen dem
Hauptverdächtigen und seinen Opfern haben finden können. Es handelt sich um
eine 19-jährige Frau und zwei Männer im Alter von 28 und 49 Jahren. Alle
drei stammen aus der Provinz Utrecht.
Es sind zuallererst die Bilder aus Utrecht, die zählen. Es sind Bilder, die
um die Welt gehen, von bestürzten, innehaltenden Menschen. Sie legen Rosen
und Tulpen, meist in Zellophan eingewickelt, an den Stamm einer
hochgewachsenen Platane – nicht weit von der Trambahnhaltestelle, wo es zur
Schießerei gekommen ist. Es sind Bilder von Menschen an einer
gesichtslosen, belebten Kreuzung, denen die Tränen das Gesicht
hinunterlaufen, Menschen, die gequält gefühlig zwei, drei Sätze in Richtung
der zahlreich hingehaltenen Mikrofone der Reporter abspulen.
## Kein finsterer Ort
In Kanaleneiland, einem Viertel mit rund 16.000 Einwohnern, leben seit den
1980er Jahren mehr als zur Hälfte Menschen mit marokkanischen Wurzeln, aber
auch viele, deren Familien ursprünglich aus der Türkei, Bulgarien und dem
Iran stammen. Auch der mutmaßliche Haupttäter Gökmen Tanis kommt von hier.
Besucher*innen, die sich in die schachbrettartig angelegten Straßen
begeben, werden freundlich empfangen.
Auch wenn viele Vorhänge, entgegen der niederländischen Tradition,
zugezogen bleiben – „wir lassen uns unsere gute Nachbarschaft durch einen
durchgeknallten Kriminellen wie Gökmen nicht kaputtmachen“, sagt Ayse, die
Mutter einer Siebenjährigen. Sie kann die Geschichten von Kanaleneiland als
eines der härtesten Ghettos des Landes nicht mehr hören.
„Klar, hier liegen vielleicht mehr Kippen und Plastiktüten auf der Straße
herum. Aber das heißt nicht, dass das ein allzeit finsterer Ort ist.“ Die
28-Jährige kennt die Familie des mutmaßlichen Täters vom Sehen, auch
Gökmen. „Mir tun seine Eltern leid. Er selbst war immer schon aggressiv,
oft betrunken, ein schlechter Mensch, auch wenn er zeitweise strenggläubig
getan hat.“
## Das Haus des Friedens
Ayse, die ihren Nachnamen nicht preisgeben möchte, zupft ihr leuchtendes
Kopftuch in Form, ihre Tochter Selma geht in eine ursprünglich katholische
Schule in Kanaleneiland, die aber heute säkular ausgerichtet ist. Auf die
islamische Schule in der Gegend soll Selma nicht: „Mein Mann und ich finden
es dort viel zu strikt, ja, da geht es ja fundamentalistisch zu“, sagt
Ayse. In den Niederlanden können muslimische Gemeinden unkompliziert und
finanziell unterstützt vom Staat Vollzeitschulen gründen.
Gleich ums Eck steht das „Haus des Friedens“ an der Trumanlaan. Henk Bouma
hat nichts gegen Fundamentalismus. Der 48-jährige evangelische Pfarrer
leitet mit leiser Energie sein Friedenshaus. Er wirkt humorvoll, wenn er
sagt: „Eigentlich bin ich ja auch Fundamentalist. Ich glaube halt einfach
an Gott heutzutage.“
Am Tag des Anschlags blieb das Friedenshaus fast durchgängig geöffnet, auch
während der draußen stattfindenden Polizeirazzien. Dutzende Menschen seien
gekommen, wollten sich austauschen über das Attentat, ihre Ängste
offenbaren. Fast alle anderen öffentlichen Einrichtungen in der Gegend
blieben am Montag dagegen geschlossen, bis zum Abend auch die Moscheen.
## Angst vor Rechtspopulisten?
Henk Bouma hat seinen beiden Kindern muslimische Vornamen gegeben, ein Sohn
heißt Khaled. „Solange Menschen anderen Menschen ihre Weltsicht, ihre
Religion nicht mit brutalen Mitteln aufzwingen wollen, so lange können sie
sich von mir aus fundamentalistisch nennen.“ Bouma kennt Kanaleneiland
nicht nur durch seine Arbeit, er lebt auch gleich um die Ecke, gegenüber
von der „Lukasschool“, in einem schlichten, geklinkerten Haus.
Draußen auf der Straße blühen tiefblaue Traubenhyazinthen, ein sperriges
Hollandrad ist in eine liebevoll angelegte Rabatte gekippt. Hat er Angst,
dass die Rechtspopulisten im Land, dass der krachledern wirkende Geert
Wilders von der „Partei für die Freiheit“ und der pseudointellektuell
auftretende Thierry Baudet vom „Forum für Demokratie“, den Anschlag für
ihre Zwecke nutzen? Dass sie noch mehr Menschen bei den jetzt anstehenden
landesweiten Provinzialwahlen für ihre Parteien gewinnen könnten?
Baudet hat als einziger Politiker seinen Wahlkampf wegen des Anschlags
nicht unterbrochen. Natürlich stünde der türkischstämmige Täter nicht für
die Türken, ließ der 36-Jährige verlauten, aber es gäbe da eben schon
tiefgreifende Probleme mit dieser Bevölkerungsgruppe. Und Wilders hat
beantragt, dass das Parlament über die Tat debattieren soll.
„Nein“, sagt Henk Bouma, und die Antwort kommt sehr schnell und präzise,
„nein, der Anschlag wird unsere niederländische Gesellschaft nicht
nachhaltig verändern. Wir wissen ja noch nicht einmal, was genau passiert
ist.“ Für ihn als gläubigen Christen gehöre der Islam zu Holland, und falls
der Täter auch noch „Allu Akhbar“ in der Straßenbahn gerufen habe, wie das
ein Augenzeuge berichtete, „dann fällt für mich dieser Spruch, natürlich
nicht die Tat, schlicht unter islamische Folklore.“
## Galgenhumor gegen diffuse Angst
Sani, die ursprünglich aus Bulgarien stammt und die ihren Nachnamen nicht
in der Zeitung lesen möchte, arbeitet ehrenamtlich im Friedenshaus. Sie
verabschiedet sich gerade, will noch Besorgungen für das für den Abend
geplante persische Chaharsbanbe-Sori-Fest machen. Auf ihrem straffsitzenden
grauen T-Shirt prangt auf Englisch und in Schwarz der Spruch: „Nicht alle,
die umherwandern, sind verloren.“ Dann erklärt sie den Weg zur der
Straßenbahnhaltestelle am Platz des 24. Oktober.
Wenig später knien dort zwei Mitarbeiter der Stadt Utrecht an mehreren
Blumenkübeln aus Beton. Quintin und Peter heißen die beiden. Sie reißen
verdorrtes Wurzelwerk aus der Erde, werfen verblühte, graue Sonnenblumen in
große Plastiksäcke. Dann füllen sie frisches Saatgut nach. Gleich gegenüber
nahe dem Anschlagsort drängeln sich die Kamerateams und die Fotografen. Sie
filmen und fotografieren die Utrechter, wie sie Blumen niederlegen. „Unsere
Pflanzen hier“, sagt Peter, und seine Stimme stockt für einen Moment, „wenn
die aufblühen, gehen sie hoffentlich nicht so arg schnell kaputt wie das
Zeug da drüben.“ Dann schweigt er.
Zehn Minuten entfernt liegt gleich ums Eck vom Hauptbahnhof das modernste
und größte islamische Gotteshaus von Utrecht, die Ulu-Moschee. Im
Erdgeschoss residiert ein Schnellrestaurant, das sich „Kebap Factory“
nennt; im ersten Stock huschen hinter Glasbausteinen schemenhaft die
Silhouetten von Betenden vorbei. Gürkan serviert in seinem Lokal eine
scharfe Linsensuppe; er hält nicht hinter dem Berg mit seiner Meinung zum
Anschlag in der Straßenbahn. „Dieser Mann, das ist nicht die Türkei, das
ist kein Mann, das ist einfach nur zum Heulen.“ Den 37-Jährigen treibt eine
diffuse Angst um, dass Türk*innen demnächst in Holland zur Zielscheibe von
Übergriffen werden könnten.
Doch sein Kollege in der „Kebap Factory“ und er würden sich ihren
Galgenhumor nicht nehmen lassen, auch nicht durch solch eine Tragödie:
„Dann gebe ich mich ab jetzt eben als Italiener aus. Und mein Kollege da
drüben als Hawaiianer.“ Als der Muezzinruf zum Gebet ertönt, bricht Gürkan
vor Lachen fast in Tränen aus.
19 Mar 2019
## LINKS
[1] /Schiesserei-in-Utrecht/!5581164
## AUTOREN
Harriet Wolff
## TAGS
Schießerei
Terrorverdacht
Gewalt
Wahlen NIederlande
Utrecht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regionalwahlen in den Niederlanden: Sieg für Rechtsaußen-Neulinge
Machtwechsel im rechten Lager: Thierry Baudet stößt Geert Wilders vom
Thron. Sein rechtes „Forum“ profitiert vom Terror in Utrecht.
Tödliche Schießerei in Utrecht: Staatsanwalt spricht von Terror
Laut Staatsanwaltschaft handelte der Täter von Utrecht allein und mit
terroristischem Motiv. Der 37-Jährige soll am Freitag einem Haftrichter
vorgeführt werden.
Schießerei im niederländischen Utrecht: Weiterer Verdächtiger festgenommen
Nach den tödlichen Schüssen in Utrecht wurde ein weiterer Mann
festgenommen. Die Tat überschattet die Parlamentswahl in den Niederlanden.
Schießerei in Utrecht: Motiv weiterhin offen
Im niederländischen Utrecht wurden am Montag drei Menschen bei einer
Schießerei getötet. Die Polizei ermittelt derzeit weiter in alle
Richtungen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.