# taz.de -- Die Dinge so sehen,wie sie sind | |
> Der Fotograf August Sander, Schöpfer des Großprojekts „Menschen des 20. | |
> Jahrhunderts“, wird in einem Band mit reichlich Bildmaterial aus der Zeit | |
> der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gewürdigt | |
Bild: August Sander, „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Mappe VI/44b. Die Gro… | |
Von Jochen Becker | |
August Sanders Monumentalwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein | |
Projekt der Weimarer Republik – aus den Schrecken und verpassten | |
Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg hinein in eine umkämpfte Republik | |
bis hin zum Nationalsozialismus und dem nächsten Weltkrieg. Das Werk häutet | |
sich noch einmal neu nach dem Horror der NS-Zeit. | |
Das jüngst erschienene Buch „August Sander – Verfolger/Verfolgte“ liefert | |
dazu Annotationen und Kommentare. Aus Sanders Lebenswerk werden Porträts | |
von Nazis und Juden, Zwangsarbeitern und politischen Häftlingen | |
hervorgehoben, die Biografien der Verfolgten rekonstruiert und um weiteres | |
Bildmaterial ergänzt. Der von Sophie Nagiscarde, Marie-Edith Agostini und | |
dem Enkel Gerhard Sander herausgegebene Ausstellungskatalog des Mémorial de | |
la Shoah in Paris entstand in Kooperation mit der August-Sander-Stiftung | |
und dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. | |
In seinem „Kulturwerk in Lichtbildern“, wie der Titel des Monumentalwerks | |
weiter lautete, porträtiert Sander zum Auftakt Bauern- und | |
Bergarbeiterfamilien aus dem Westerwald sowie ländlich verwurzelte | |
Handwerker in Festtags- oder Berufskleidung, in privater wie beruflicher | |
Pose, wie sie sich in den Sitzungen und Stellproben herausgeschält hatte. | |
Viele Familien suchten im Bergbau oder als Wanderarbeiter ein zusätzliches | |
Auskommen. Sander selbst ist im nahen Siegerland in einer | |
Bergarbeiterfamilie aufgewachsen. Nach Wanderjahren zog Sander 1910 nach | |
Köln und reiste mit Bahn und Fahrrad in den Westerwald auf der Suche nach | |
Kundschaft – und wurde dabei Kundschafter einer untergehenden Welt. | |
Auf die Dorfbewohner folgen Kleinstädter, Großstadtmenschen, Putzfrauen, | |
Boheme-Künstler, Professoren, Industrielle, Kaufleute, Nazis, alle auf | |
Augenhöhe fotografiert. 1937 erfasste Sander im Kölner Hauptbahnhof eine | |
fröhliche Reisegruppe, um den sie anleitenden SS-Hauptsturmführer geschart. | |
Warum nahm Sander diese Volksgenossen nicht in die Nazi-Mappe auf? „Die | |
Hakenkreuzbinde bedeutet nichts mehr, wenn Millionen von Deutschen aus | |
allen sozialen Schichten sie tragen“, schreibt Alain Sayag im Katalog. Nazi | |
sein wird normal, für andere tödlich. | |
Sohn Erich Sander starb 1944 kurz vor der Entlassung im Zuchthaus Siegburg. | |
Er war nicht nur mehrfach Porträtierter und wichtigster Mitarbeiter seines | |
Vaters, sondern auch im Widerstand aktiv. Von 1920 bis zur Festnahme 1934 | |
radelte er durch Deutschland, nach Österreich sowie Italien, brachte über | |
1.000 Fotoaufnahmen mit und transportierte zuletzt auch illegale Dossiers. | |
August Sander schätzte besonders die Landschaftsaufnahmen seines Sohns. | |
Gemeinsam reproduzierten sie auf Fotopapier illegale Flugblätter, die Erich | |
verfasst hatte. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzte August Sander sein Lebenswerk um die | |
Fotografien von jüdischen Kölnern, von „Fremdarbeitern“ und politisch | |
Verfolgten, die Erich aus dem Zuchthaus schmuggeln ließ. 1947 erwähnt der | |
Vater erstmals eine „Judenmappe“, von „typischen alten Kölnern“. Die | |
Publikation des Shoah-Museums in Paris trug nun weitere Kontaktabzüge | |
zusammen und spürte in Kooperation mit dem Kölner NS-Dokumentationszentrum | |
biografische Daten einzelner Porträtierter auf. Ihr Leben wird erzählt, ihr | |
Leidensweg, Exil oder Ermordung verzeichnet. Genauso wird auch mit den | |
politisch Verfolgten verfahren. Nur die „Fremdarbeiter“ bleiben weiterhin | |
anonym. | |
Ab 1938 mussten deutsche Juden sich um ein Lichtbild für ihre | |
„Judenkennkarten“ kümmern. Sander schuf keine Passfotos, sondern geduldige | |
und würdevolle Porträtaufnahmen. Die „Verfolgten“ stecken in bürgerlichen | |
Tarn-Uniformen, um Konformität auszustrahlen. Sie sind in Sanders Studio | |
heimatlos eingetreten. Kein Lächeln blitzt über die Gesichter, da die | |
Sitzung nicht freiwillig ist. Parallelen ergeben sich zu Erich Sanders | |
Zuchthausaufnahmen von Zwangsarbeitern und politisch Verfolgten, die den | |
Zwangscharakter der Bilder ebenfalls nicht leugnen können. | |
Die zur späteren „Erfassung“ gedachten Aufnahmen zeigen Personen, die schon | |
bald in Kalkgruben oder Öfen ausgelöscht werden. Heute können diese | |
geretteten Bilder, nach Deportation, Ermordung oder Tod im Exil, auch zur | |
Re-Personalisierung dienen, indem man ihnen Namen und Geschichte verleiht. | |
Benjamin Katz zum Beispiel, Betreiber einer Metzgerei unweit der Familie | |
Sander, ist einer der Fotografierten. Er musste schon 1933 zwischen | |
SA-Horden ein Schild durch Köln tragen, auf dem zu lesen steht „Deutsche | |
wir warnen euch hier zu kaufen! Die Käufer werden fotografiert.“ Zu | |
vermuten ist, dass unter den Käufern sich auch die Familie Sander befand. | |
„Die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen oder | |
können“, schreibt August Sander 1927. Er verzeichnet nicht das deutsche | |
Volk, sondern eine „Gesamtschau der gesellschaftlichen Ordnung“ der in | |
Umbrüchen befindlichen Bevölkerung in Deutschland. Das work in progress | |
wird sukzessiv ergänzt um die Mappen von Soldaten und Nazis sowie um | |
(politisch und rassisch) Verfolgte sowie „Die letzten Menschen: Idioten, | |
Kranke, Irre und die Materie“ oder die Todesmaske des Sohnes. Die | |
Gesellschaft zeigt sich hier unversöhnt. | |
Sophie Nagiscarde, Marie-Edith Agostini, Gerhard Sander (Hg.): „August | |
Sander – Verfolger/Verfolgte. Menschen des 20. Jahrhunderts“. Steidl | |
Verlag, Göttingen 2018, 260 Seiten, 30 Euro | |
20 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Jochen Becker | |
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