# taz.de -- „Was bleibt mir übrig, als zu lachen?“ | |
> Die Journalistin Seda Taşkın wurde nach einem Jahr im Gefängnis zu mehr | |
> als sieben Jahren Haft verurteilt. Nun kam sie frei. Ein Interview über | |
> ihre Zeit in Haft | |
Bild: Seda Taşkın im Gespräch mit dem Journalisten Hayri Demir in Ankara | |
Interview Hayri Demir | |
taz gazete: Frau Taşkın, Sie haben ein außergewöhnliches Jahr hinter sich. | |
Im Januar 2018 wurden Sie verhaftet und im Oktober zu siebeneinhalb Jahren | |
Haft verurteilt. Am 17. Januar kamen Sie frei, jetzt soll der Prozess neu | |
aufgerollt werden. Was wirft man Ihnen vor? | |
Seda Taşkın: Mein Fall führt deutlich vor Augen, wie Journalismus in der | |
Türkei verfolgt wird. Mir wurde beispielsweise vorgeworfen, dass ich über | |
eine kranke Frau von 78 Jahren berichtet hatte, die in Muş verhaftet worden | |
war. Es wurde behauptet, mit meinem Bericht hätte ich „die Organisation | |
ermutigt“ (die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, Anm. d. Red.). Dabei | |
bin ich Journalistin. Mein Beruf erfordert, dass ich dorthin gehe, wo es | |
etwas zu berichten gibt. | |
Was soll das heißen, Sie hätten mit Ihren Berichten „die Organisation | |
ermutigt“? | |
In der Urteilsbegründung hieß es: „Sie machte sich schuldig, in die Provinz | |
Muş und Umgebung gereist zu sein und Berichte verfasst zu haben, die die | |
Mitglieder der Terrororganisation motivieren und ermutigen.“ Diese | |
Formulierung ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass meine | |
Berichterstattung als Straftat betrachtet wird. | |
Können Sie uns Ihre Haftbedingungen schildern? | |
Als ich in meine Zelle kam, wurde ich von einer Reihe junger Frauen | |
begrüßt. Sie nahmen mich auf, als würden wir uns seit Jahren kennen. Als | |
ich mir ihre Geschichten anhörte, erkannte ich, dass keine von uns sich von | |
den anderen unterschied. Studentinnen waren darunter, Hausfrauen, | |
Politikerinnen, auch Journalistinnen wie ich. Die Zellen sind eigentlich | |
für eine Person bemessen, aber wir waren zu dritt. Das lag daran, dass so | |
viele Leute verhaftet werden. Weil der Raum so begrenzt war, hatten wir so | |
gut wie keine Bewegungsfreiheit. Nur auf dem Hof konnten wir uns etwas | |
bewegen. | |
Wie liefen die Tage ab? | |
Ich stand jeden Morgen um halb acht auf und machte eine Stunde Sport. Mit | |
Sport meine ich kleine Übungen in der Zelle. Dann Frühstück, anschließend | |
las ich zwei Stunden lang. Nach dem Mittagessen verbrachte ich die Zeit | |
wieder mit Lesen und Schreiben. Ich hatte richtig Arbeitszeiten für mich | |
festgelegt. Außer den Besuchstagen verliefen alle Tage nach dieser Routine. | |
Ich hatte keine Kamera in meiner Zelle, aber ich stellte mir einen | |
Fotoapparat vor und überlegte, wie ich fotografieren könnte. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich habe vor meiner Haft viele Porträts von Frauen und Kindern gemacht. Ich | |
rief mir die letzten Kinderfotos ins Gedächtnis, die ich geschossen hatte, | |
und versuchte, sie mit dem Wissen, das ich jetzt hatte, nachdem ich viel | |
über Fotografie gelesen hatte, neu aufzunehmen. | |
Hatten Sie Schwierigkeiten, die Dinge zu bekommen, die Sie brauchten? | |
Alles ist schwierig zu bekommen. Zum Beispiel bekam man keine Schere. Aber | |
ich musste meine Haare schneiden. Der Mangel macht einen dann kreativ. Es | |
kann Monate dauern, bis die Friseurin kommt. Also fing ich an, meine Haare | |
mit dem Nagelknipser zu schneiden. So wurde ich plötzlich zur Friseurin für | |
die ganze Zelle, und das mit einem einzigen Nagelknipser. (lacht) | |
Was haben Sie im Gefängnis besonders vermisst? | |
Vor meiner Haft bin ich oft auf Reisen ins Unbekannte gegangen. Diese | |
Reisen haben mir am meisten gefehlt. Es war auch schmerzlich, die Kamera, | |
die mich draußen Tag und Nacht begleitet, nicht benutzen zu können. Und ich | |
habe mich sehr nach Musik gesehnt. | |
Wir haben gesehen, dass Sie auch aus der Haft heraus Berichte geschrieben | |
haben. | |
Ich habe die Haft als Chance genutzt. Mein Beruf ist nicht an einen | |
bestimmten Ort gebunden und kennt keine Grenzen. Ich habe mich auf die | |
Geschichten der Menschen im Gefängnis fokussiert. Zwischen mich und das | |
Leben hat man die Mauer gesetzt. Diese Mauer wollte ich mit meinen | |
Berichten einreißen. Ich habe in einem Brief darüber berichtet, dass das | |
Wasser rostig aus dem Hahn kommt. Das gefiel der Anstaltsleitung gar nicht. | |
Eine der Kontrolleurinnen unserer Briefe legte mir nahe, nicht über die | |
Zustände zu schreiben. Ich hielt dagegen, genau deshalb sei ich verhaftet | |
worden, genau das würde ich fortsetzen. | |
Der inhaftierte Journalist Nedim Türfent wies in einem Brief aus dem | |
Gefängnis auf Ihre Lage hin und forderte dazu auf, Ihnen zu schreiben. | |
Haben Sie unerwartete Briefe von Leuten erhalten, die Sie nicht kannten? | |
Ich habe Briefe von Menschen bekommen, die ich nicht kannte, in Sprachen, | |
die ich nicht beherrsche. Auch viele Kolleg*innen in der Türkei sorgten mit | |
ihren Briefen dafür, dass ich nicht allein war. Manchmal kamen so viele | |
Briefe, dass ich mit den Antworten die ganze Nacht hindurch beschäftigt | |
war. Auch mit Nedim habe ich häufig geschrieben. Es hat mich sehr berührt, | |
dass er noch aus der Haft heraus über meine Lage schrieb. Ein Journalist in | |
Haft berichtet über eine andere Journalistin in Haft. | |
Von Ihren Anwält*innen habe ich erfahren, dass Ihre Freilassung | |
überraschend für sie kam. | |
Für mich auch. Ich saß mit anderen Gefangenen im Gespräch zusammen, da | |
wurde mein Name durchgesagt. Ich öffnete das Gitter der Eisentür. Es hieß, | |
ich käme frei. Ich habe es nicht geglaubt. Ich dachte, die nehmen mich auf | |
den Arm. Denn das Regionalgericht hatte mich zu einer Haftstrafe | |
verurteilt. Ich kam nach genau 360 Tagen frei und nahm nur die Briefe mit. | |
Um ehrlich zu sein, ich hatte längst jede Hoffnung auf die Justiz | |
aufgegeben. Die Justiz ist doch nur noch eine Theaterbühne. Darum habe ich | |
gelacht, als mich das Gericht im Oktober zu sieben Jahren und sechs Monaten | |
Haft verurteilt hat. | |
Wie kann man über eine solche Strafe lachen? | |
Weil diese Sache von vorn bis hinten tragikomisch war. Können Sie sich das | |
vorstellen? Ich wurde bestraft, weil ich mit meinen Berichten „die | |
Organisation ermutigt und motiviert“ haben soll. Wir haben es mit einer | |
Justiz zu tun, die eine solche Strafe verhängen kann, ohne dass ein | |
einziger konkreter Beweis vorliegt! Was bleibt einem da anderes übrig, als | |
über so eine Justiz zu lachen? | |
Und wie geht es weiter? Die Haftstrafe besteht ja nach wie vor. | |
Nach dem Beschluss, mich auf freien Fuß zu setzen, wird das Verfahren | |
erneut aufgerollt. Am 20. März muss ich wieder vor Gericht. Ich möchte noch | |
einmal daran erinnern, wie wichtig Solidarität in dieser Phase ist. Das | |
gilt nicht bloß für mich, sondern für etliche inhaftierte Journalist*innen. | |
Die Solidarität muss fortdauern, bis kein einziger Journalist, keine | |
einzige Journalistin mehr in Haft ist! | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
9 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Hayri Demir | |
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