# taz.de -- Politisch sein, das muss man lernen | |
> Warum ist Europa so gut? Zusammen mit ihren nach Deutschland geflüchteten | |
> Vorklassen-Partner*innen entdecken Schüler*innen des Alten Gymnasiums den | |
> Wert der Menschenrechte | |
Bild: Von Schüler*innen designt: menschlicher Europasternenkranz | |
Von Moritz Warnecke | |
Ali tritt vor die Bühne. „Ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich | |
studieren möchte“, sagt er. Mit seinem Drei-Tage-Bart wirkt Ali etwas älter | |
als seine Mitschüler*innen. Hinter ihm wird ein Plakat auf eine Leinwand | |
projiziert. Darauf zu sehen: Ali, wie er vor dem Schuleingang des Alten | |
Gymnasiums steht, in dessen Aula die Veranstaltung stattfindet. | |
Auf dem Plakat blickt Ali selbstbewusst durch die Gläser seiner schwarzen | |
Brille in die Kamera. Seinen Rucksack hat er dabei lässig über die Schulter | |
gehängt. „Im Iran durfte ich als Afghane nicht zur Schule gehen“, erzählt | |
der 19-Jährige. Er spricht leise. Seinen Vortrag hält er ohne Zettel. Die | |
Schülerinnen in der Aula hören gespannt zu. „Afghanen im Iran haben keine | |
Papiere. Sie müssen von einfacher Arbeit leben und dürfen nicht zur | |
Universität“, erzählt Ali. Er habe dort keine Perspektive gesehen, deswegen | |
sei er nach Europa gekommen. Auf seinem Plakat steht „Für mich ist Bildung | |
wie ein Licht auf diesem Weg.“ | |
Ali geht in eine sogenannte Vorklasse. In diesen Klassen werden | |
Schüler*innen beschult, deren Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, um | |
am Regelunterricht teilzunehmen – auch am Alten Gymnasium ist das so. Damit | |
es trotzdem zu einem Austausch mit Schüler*innen aus den Regelklassen | |
kommt, gibt es an der Schule ein Patenprojekt. „Bei dem Projekt geht es | |
darum, die Leute mehr zusammenzubringen, sodass sie hier alle schnell | |
Anschluss finden“, erklärt die 15-jährige Carima aus der 10. Klasse. | |
## Sich für Europa entscheiden | |
Unter dem Slogan „Entscheide dich für Menschenrechte. Entscheide dich für | |
Europa“ haben die Schüler*innen mit der Vorklasse gemeinsam in einem | |
Workshop Plakate gestaltet. Damit nehmen sie am 66. Europäischen | |
Schülerwettbewerb teil. Bei dem von Senat geförderten Wettbewerb sollen | |
Kinder und Jugendliche dazu motiviert werden, sich kreativ mit europäischen | |
Themen auseinanderzusetzen. Den Gewinner*innen wird die Möglichkeit | |
geboten, auf einem internationalen Seminar eine Woche mit Preisträger*innen | |
aus anderen europäischen Ländern zu verbringen. Das Alte Gymnasium macht | |
jedes Jahr beim Wettbewerb mit –schließlich nennt es sich selbst | |
Europa-Schule. | |
Die Idee für den Beitrag der diesjährigen Bewerbung entstand auf einer | |
Klassenfahrt in den Harz. Gemeinsam sind die Teilnehmer*innen des | |
Patenprojekts im Dezember in die Nähe von Torfhaus gefahren. Ingo Matthias | |
hat diese Fahrt mitbetreut. „Ich habe mich in erster Linie über die Lust | |
der Jugendlichen gefreut, einander kennenzulernen“, erzählt der Lehrer für | |
Deutsch und Englisch. In einem Selbstversorgerheim konnten sich die | |
Jugendlichen bei gemeinsamen Kochaktionen, Spieleabenden oder Rodeltouren | |
näherkommen. Die Sprachbarriere spielte dabei keine große Rolle, notfalls | |
unterhielt man sich auf Englisch. | |
Dass die Fahrt in dieser Konstellation überhaupt zustande kam, ist auch den | |
Schüler*innen des Gymnasiums zu verdanken. „Vor einem Jahr haben wir | |
demonstriert und gestreikt, damit die Vorklassen nicht abgeschafft werden“, | |
erzählt Carima. „Wir sind der Meinung, dass sie hier viel schneller Deutsch | |
lernen als auf einer eigenen Schule, wo sie doch auf keine Deutschen | |
treffen würden.“ | |
Neben den Freizeitaktivitäten hat es im Harz auch Gespräche über Politik | |
gegeben. Anlässlich des 70. Jubiläums der Verabschiedung der | |
UNO-Menchenrechte haben die Schüler*innen über das Thema diskutiert. Bei | |
der Auseinandersetzung sei den in Deutschland aufgewachsenen Schüler*innen | |
noch einmal bewusst geworden, wie wenig selbstverständlich diese | |
Menschenrechte seien, erinnert sich Ingo Matthias: „Wenn die Schüler*innen | |
aus der Vorklasse erzählen, warum sie nach Europa geflohen sind und den | |
anderen vor Augen halten, wie gut sie es haben, hat das natürlich eine | |
besondere Wirkung.“ | |
## Dem Tod begegmet | |
„Es ist Wahnsinn, wie sehr die schon mit dem Tod konfrontiert worden sind“, | |
sagt Carima. Als sie das erste Mal die Geschichten der Jugendlichen zu | |
hören bekam, habe sie Tränen in den Augen gehabt. „Mein Vorklassen-Partner | |
hat seine Mutter verloren. Da wird einem nochmal klar, wie gut es uns | |
geht.“ | |
Mittlerweile steht eine junge Syrerin vor der Bühne. „Wenn du in Syrien | |
Geld hast, kannst du die Polizei und Richter bestechen“, erzählt sie. | |
„Sogar bei Mord!“ Die Korruption sei ein großes Problem in ihrem Land. „… | |
haben eine Verfassung, aber keiner hält sich ans Gesetz“, erklärt sie. „In | |
Europa ist jeder vor dem Gesetz gleich, das ist gut.“ | |
## Das Menschsein bewahren | |
Auf der Leinwand ist jetzt ein Bild von vier Jugendlichen zu sehen. Sie | |
kommen aus unterschiedlichen Ländern: aus dem Iran, aus China, Syrien und | |
Ghana. Das Plakat ist das letzte an diesem Dienstagmorgen. In den | |
vorangegangenen haben die Jugendlichen die Religions- und Meinungsfreiheit | |
und die Frauenrechte thematisiert. Nach einer kurzen Pause folgt nun eine | |
Disskusion. Carima moderiert, sie möchte von ihren Mitschüler*innen wissen, | |
was sich in Deutschland noch verbessern lässt. | |
Ein Schüler mit Pferdeschwanz meldet sich. „Ich finde, man sollte viel mehr | |
das freiwillige und selbstbestimmte Lernen an der Schule fördern. In | |
unserer Gesellschaft geht es doch immer nur um Leistung und das ist schade, | |
weil dadurch das Menschsein irgendwie verloren geht.“ Im Publikum | |
zustimmendes Nicken. „Würdet ihr gerne schon mit 16 wählen dürfen?“, fra… | |
Carima. Wieder kommt der Junge mit dem Pferdeschwanz zu Wort: „Klar können | |
wir in dem Alter noch nicht alles wissen, aber wer sagt denn, dass das ein | |
50-Jähriger tut? Wir sollten uns lieber die Frage stellen, wie wir | |
politisches Wissen besser und früher vermitteln können und nicht erst ab | |
der 9. Klasse.“ | |
## Stellvertreter für Millionen | |
Politisches Engagement ist auch für Ali besonders wichtig. Er möchte später | |
einmal Politiker werden, erzählt er. „Wenn ich hier von meinen Erfahrungen | |
aus dem Iran spreche, spreche ich für Millionen von Schülern. Ich möchte | |
meine Erfahrungen weitergeben: Was habe ich gesehen, was habe ich gemacht, | |
was erlebt?“ | |
Carima bemängelt, dass Schüler*innen zu wenig ernst genommen würden: „Ich | |
war am Freitag auf der Fridays-for-Future-Demo und musste dann in der | |
Zeitung lesen, dass wir Schüler fröhlich die Schule geschwänzt hätten“, | |
erzählt sie. „Und unsere Handys seien ein Zeichen dafür, dass wir über die | |
Ursachen des Klimawandels eigentlich gar nichts wüssten. Dabei haben wir | |
die Demo über Whatsapp und Facebook organisiert. Und natürlich freut es | |
einen, wenn 5oo Leute kommen.“ | |
Mit ihren Plakaten wollen die Jugendlichen auch zur Europawahl auf die | |
Straße gehen. Politisch sein, das müsse man erst lernen, sagt die | |
15-Jährige noch. „Da reicht der Politikunterricht nicht aus.“ | |
4 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Moritz Warnecke | |
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