# taz.de -- Die verlorenen Paradiese der kleinen Leute | |
> Die schönen Warenwelten der Kindheit in den 70er-Jahren waren | |
> Massenindustrie, aber sie übten einen Zauber aus. Der ist verflogen in | |
> dem Maße, wie Spielzeug zu Ramsch herunterkommt. Eine | |
> Weihnachtsgeschichte von Roger Behrens | |
Bild: Links: Der Autor vor dem elterlichen Weihnachtsbaum, 1978; rechts: 1971 m… | |
Oldenfelde, zwischen Berne und Rahlstedt, am nordwestlichen Stadtrand von | |
Hamburg: Meine Kindheit hier – das sind die ersten Lebensjahre in der | |
Bekassinenau, dann Umzug in die Greifenberger Straße, gegenüber die | |
Grundschule Kamminer Straße. Vom Balkon aus konnten wir den Schulhof sehen, | |
vom Schulhof aus konnte ich unseren Balkon sehen. „Unser Balkon“ – das ist | |
natürlich, genaugenommen, falsch: Der Balkon gehörte uns nicht, so wenig | |
wie die Wohnung. Meine Eltern waren einer Baugenossenschaft beigetreten, | |
die Wohnung war zu relativ günstigen Konditionen gemietet, Küche, Bad, | |
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, ein Flur, dessen lange Wand mit | |
Kiefern-Paneelen verkleidet wurde. | |
Schulwechsel aufs Gymnasium, zeitgleich Umzug in die Eichberg-Siedlung, | |
vermittelt und vermietet wieder von derselben Baugenossenschaft, | |
Komfortwohnung, Parkplatz vor dem Haus, dazu ein Autowaschplatz, der | |
Zweitwagen wurde angeschafft. Gegenüber wurde gebaut, Einfamilienhäuser, | |
dahinter Natur, die bald planiert wurde, um die Trasse für die | |
Schnellstraße anzulegen. Lebensmittel kaufte man jetzt in den ersten | |
Discount-Supermärkten, Urlaub in Dänemark, auf den Balearen oder Kanaren. | |
Die ersten Reisen mit Spantax, am Flughafen gab es für die Luftfahrt noch | |
ein Lustiges Taschenbuch. | |
Das passierte zwischen 1967 und 1983, dann war die Kindheit vorbei. Was | |
sich allgemein abzeichnete, war in der Peripherie als Idylle und | |
Komfortzone kaum zu spüren: Das private Glück, ausgestattet mit den | |
Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft plus Bausparvertrag und | |
Lebensversicherung trotzte dem „Ende des goldenen Zeitalters“, wie es der | |
Historiker Eric Hobsbawm für die Zeit nach 1973 diagnostizierte; die Krisen | |
schienen hier – abgesehen von ein paar autofreien Sonntagen – noch nicht | |
angekommen zu sein, noch konnten Entwürfe individueller | |
Selbstverwirklichung auf Familienniveau ohne Weiteres ausprobiert werden. | |
Der soziale Wohnungsbau stellte die Räume bereit, in denen ein „eigenes | |
Leben“ verwirklicht werden konnte, also im emphatischen Sinne ein | |
Lifestyle, der Individualität versprach – vermittelt durch eine | |
Massenkultur, die sich sukzessive verfeinerte. Und dies betraf auch die | |
Formierung von Kindheiten, von Kind-Sein überhaupt. | |
Nachdem schon in den 1950ern Jugendliche über das Kulturwarenangebot des | |
„kooperativen Kapitalismus“ (Herbert Marcuse) eingebunden wurden, wurden | |
spätestens in den 1970ern auch Kinder als Konsumenten mit einem wachsenden | |
Markt verkoppelt, der sich in verschiedensten Segmenten zusehends auf | |
besondere Altersgruppen – etwa Vier- bis Achtjährige, Acht- bis | |
Zehnjährige, später auch Drei- und Vierjährige, dann sogar Null- bis | |
Dreijährige – spezialisierte. | |
## Im Schattenvon Vietnam | |
Zumindest in den Selbstrepräsentationen konnte über Reklame, Kataloge, | |
Filme, Schaufenster und dergleichen eine Wohlstandsgesellschaft illustriert | |
werden, die sich über das gesamte Leben der Einzelnen zu erstrecken | |
vermochte; und im Schatten von Vietnam, Kalter Krieg, Kulturrevolution und | |
RAF war freilich von Bedeutung, dass die Kinderwelt unbedingt als eine | |
heile Welt inszeniert wurde. | |
Die „ungeheure Warensammlung“, die Marx noch 1867 als Bild für den Reichtum | |
des Kapitalismus nahm, hatte nach einem Jahrhundert mit der „Gesellschaft | |
des Spektakels“, in der „alles, was unmittelbar erlebt wurde, in eine | |
Vorstellung entwichen“ war (Guy Debord), zusehends alles Ungeheure | |
abgelegt: Das bunte, poppige, glückliche Plastikzeitalter begann in den | |
Kinderzimmern; die „affluent society“, also Überflussgesellschaft, hatte | |
alsbald ihre signifikantesten Bilder in den Riesenmengen an Spielzeugen | |
gefunden. | |
So wenig wie Massenkultur an sich eine von der Masse für die Masse | |
hergestellte Kultur ist, so wenig ist die Kindermassenkultur, die sich | |
jetzt als alle Lebensbereiche umfassendes Verbundsystem etablierte, eine | |
von Kindern geschaffene Kultur: Sämtliche Spielzeuge, Bücher, Filme, | |
Fernsehserien, sonstige Gadgets und Gimmicks wurden und werden von | |
Erwachsenen produziert, und das heißt schließlich auch: konzeptioniert, | |
designt, „kindgerecht“ gestaltet und überdies mit allerhand pädagogischen | |
und psychologischen Phrasen etikettiert: Spielzeuge „fördern“, „regen die | |
Fantasie an“, „helfen“, sind oder machen „kreativ“; Kinder „lernen�… | |
Beispiel „Geschicklichkeit“, „soziales Verhalten“ über „Rollenspiele… | |
Allgemein gerahmt sind diese insgesamt dem Behaviorismus entstammenden | |
Verbrämungen von der Vorstellung, dass Kind-Sein eine Vorstufe des | |
Erwachsen-Seins ist, die unbedingt pädagogisch und psychologisch betreut | |
und deshalb mit pädagogisch wertvollen und psychologisch getesteten | |
Spielzeugen und Medienangeboten begleitet sein muss. | |
Gleichwohl war in den 1970ern bis zu den frühen 1980ern Jahren aber auch | |
noch ein mit Sorge behaftetes Bewusstsein virulent, dass solche über | |
Spielzeug vermittelten Erziehungsanstrengungen auch schiefgehen können; | |
kritisiert wurde die auf Kinder und Kindheit zugeschnittene Kulturindustrie | |
dabei bemerkenswerter Weise von progressiver wie konservativer Seite nach | |
ähnlichen Deutungsmustern eines Diskurses, wonach Erwachsene irgendwie | |
wüssten, was für Kinder und Kindheit gut und richtig ist, und vor allem was | |
nicht. | |
Die Einführung der Sesamstraße war nicht unumstritten, der Bayerische | |
Rundfunk hat das US-amerikanische Format nicht ins Programm aufgenommen. | |
Plastikspielzeug von Herstellern wie Mattel – nämlich das | |
Barbie-Puppen-Sortiment und damals noch, als Pendent für Jungs, Big Jim und | |
seine abenteuerlustigen Freunde – galten eher als pädagogisch wertlos, | |
schon früh monierten Erwachsene die mit den Figuren reproduzierten | |
Stereotypen. Die von Mattel vermarktete Plastikwelt galt als | |
realitätsfremd, für Kinder ungeeignet und somit wenig lehrreich; hingegen | |
waren sich Eltern und Experten relativ einig, dass die Bau- und | |
Konstruktionsspielzeuge von Herstellern wie Lego, Bilofix, Märklin, | |
Plasticant, Eduplay und vor allem dann Fischertechnik dem Kind in jeder | |
Hinsicht spielerisch – und das heißt eben immer lehrreich-lernend – | |
Wirklichkeit authentisch vermitteln. | |
Als kindgerecht stellte man sich diese Wirklichkeit allerdings gewaltfrei | |
vor. „Kein Krieg im Kinderzimmer“ war über lange Zeit eine entschiedene | |
pädagogische Parole, die sich allerdings weitgehend auf Militärspielzeuge | |
beschränkte: Dass im Maßstab 1:87 die Panzer von der Firma Rocco durchs | |
Kinderzimmer rollten, wurde nicht gerne gesehen; sich indes mit | |
Gummi-Tomahawk und Platzpatronen-Revolver, gegenseitig im | |
Cowboy-und-Indianer-Spiel umzubringen oder als Ritter mit Holz- und | |
Plastikschwertern, aufeinander loszugehen, galt irgendwie als | |
realitätsgerechter und wurde – argumentativ umrahmt von Versatzstücken | |
populärer Verhaltenspsychologie und Entwicklungspädagogik – toleriert. | |
Den Umschwung in dieser Debatte gab es erst um 1980, womöglich datierbar | |
auf das Jahr 1977, als der erste Star Wars-Film in die Kinos kam, der auch | |
deshalb die Wiederbelebung des Blockbuster-Kinos bedeutete, weil er von | |
einem großen Merchandise-Paket begleitet war, unter anderem so genannten | |
Action-Spielfiguren, natürlich von Anfang an vollbewaffnet; weitergeführt | |
wurde das in den 1980ern durch Masters of the Universe und He-Man, während | |
gleichzeitig sich auf den Bildschirmen die noch Videospiele genannten | |
Computergames mehr und mehr aufs Abschießen und Wegbomben kaprizierten. | |
(Für die über die 68er sozialisierten Erwachsenen ließen sich die | |
Erinnerungsreste an den Vietnam-Krieg nun über Film und Fernsehen | |
kompensieren: „Apocalypse Now“ (1979), „Rambo“ (ab 1982), „Magnum“ … | |
ab 1980); eine humoristische Verarbeitung boten der Film und die Serie | |
»M*A*S*H« schon in den 1970ern.) | |
## Das Verschwindender Kindheit | |
Im Zuge der Medialisierung kindlicher Lebensräume gab es noch einmal eine | |
große Debatte, die Neil Postman 1982 in seinem Buch „Das Verschwinden der | |
Kindheit“ zuspitzte – eine Debatte, die jedoch weitgehend verstummte, und | |
zwar spätestens mit der fortschreitenden Digitalisierung und | |
Computerisierung, die in den 1990ern zusehends auch die Kindheit bestimmte | |
und Spielwelten der technologischen Rationalität unterwarf, also eigentlich | |
gute Gründe bot, Postmans Kritik sachlich, wenn nicht emanzipatorisch | |
fortzusetzen. | |
Die System-Spielzeuge, nämlich vor allem Lego und Playmobil, die wie | |
Märklin und Fischertechnik auch mit dem Etikett „System“ vermarktet wurden | |
(System bedeutet hierbei das abgeschlossene, doch untereinander | |
kombinierbare, Produktprogramm), wurden den Kinderkonsumenten weitgehend in | |
umfangreichen, Hersteller-eigenen Katalogen angeboten: Ab Herbst stapelten | |
sich diese zuhause, um so langsam die Wunschzettel für Weihnachten fertig | |
zu machen. | |
Und mehr noch: Aus den Katalogen von Märklin, Fleischmann, Faller, Siku, | |
Matchbox, Dinky Toys, Kosmos oder Ravensburger setzte sich eine ganze Welt | |
zusammen, eine Totalität, die sich im kindlichen Zugriff als eigenständige | |
Mythologie entfaltete. Mitunter hatten die Kataloge, die wie bei den großen | |
Versandhäusern im Buchformat herausgegeben wurden, Titel wie „Die ganze | |
Welt der Phantasie“ oder „Das Buch der Wünsche“; dass es alles, was in d… | |
Katalogen abgebildet war, auch wirklich gab, ließ sich in der Innenstadt | |
überprüfen, in den Spielwarenabteilungen von Horten, Kaufhof, Karstadt oder | |
Alsterhaus, bei Brinckmann in der Spitalerstraße und vor allem bei | |
Spielzeug Rasch am Ida -Ehre-Platz / Ecke Speersort. | |
Brinckmann, Spielzeug Rasch und einige der ehemals großen Kaufhäuser sind | |
längst verschwunden (ebenso wie die Fachgeschäfte etwa im Modellbaubereich, | |
so zuletzt das „Traditionsgeschäft“ Modellbau Rettkowsky auf St. Pauli oder | |
Modellbahn Altona in der Ehrenbergstraße); selbst Toys’R’Us – einst | |
Marktführer – ist gerade pleitegegangen („Ein trauriger Tag für alle Kind… | |
und Familien“, kommentierte das Management die Schließung mehrerer | |
Filialen). | |
Abgesehen von einigen kleineren Spielzeugläden, die in Hamburg bis heute | |
überlebt haben, bietet der verbliebene Fachhandel kaum noch ausschließlich | |
Spielzeuge an – und richtet sich auch nicht mehr wirklich an Kinder, | |
sondern eher an – zahlungskräftige – Eltern: Wie in den letzten | |
zusammengeschrumpften Spielwarenabteilungen bei Kaufhof, Karstadt und – in | |
einem sehr spärlichen Reservat übrig geblieben – Alsterhaus wird längst | |
auch, bei zum Beispiel Jako-O, Spielzeug zusammen mit Kindermode und | |
Babyartikeln angeboten. | |
In den Geschäften der Großketten wie MyToys oder BR werden die Spielzeuge | |
wie Ramschware angeboten; das vermutlich von irgendwelchen | |
Marketing-Strategien ausgeklügelte Raum- und Beleuchtungskonzept der Läden | |
hat den Charme von Baumärkten (wobei die sich ja neuerdings eher wieder auf | |
die Atmosphäre des gemütlich-kompetenten Fachhandels besinnen). Ohnehin hat | |
sich der Spielzeugverkauf von den teils nur noch wie Outlets belieferten | |
Ladengeschäften ins Internet verlagert. Und dort kann sich auch im | |
Spielwarenbereich der Fachhandel gegenüber Amazon und Ebay kaum halten; | |
gerade hat die Ladenkette BR Spielwaren mit zehn Filialen in Hamburg | |
Insolvenz angemeldet. | |
Dass die Weihnachtseinkäufe vor allem Stress bedeuten, der durch | |
rechtzeitige Besorgungen oder Internetkauf vermieden werden kann, ist | |
längst zum Kalauer des ohnehin offen mit Zwangscharakter vollzogenen | |
Warenfetischismus geworden. Kinder sind bei der Erledigung der | |
Weihnachtseinkäufe eher hinderlich. Die leuchtenden Kinderaugen, die | |
freilich in der Reklame noch immer präsentiert werden, bekommt man in den | |
Spielwarenabteilungen und -geschäften kaum noch zu sehen; stattdessen lässt | |
sich in diesen Tagen oft beobachten, wie Kinder regelrecht zwischen den | |
Regalen durchgezerrt werden, angewiesen, sich doch bitte für Weihnachten | |
irgendwas auszusuchen. | |
## Paradiese für Kinder ohne Erwachsene | |
Kaum sieht man Kinder ohne Begleitung von Erwachsenen in den ihnen | |
zugedachten Paradiesen. So erinnere ich es aber noch aus meiner Kindheit, | |
und auch wenn es wahrscheinlich nur ein-, zweimal passierte, habe ich es | |
doch als ewiges Bild festgehalten: Ich bin alleine in der | |
Spielwarenabteilung bei Karstadt, meine Eltern sind unterwegs, machen | |
Weihnachtsbesorgungen. Ich sehe mir alles an, habe unendlich Zeit. „Nur mit | |
den Augen gucken“ soll ich als Leitgebot befolgen; ich halte mich nicht | |
immer daran. | |
Über die neuen Angebote von Lego, Playmobil und der damals noch aktiven | |
Konkurrenz Play Big habe ich schnell einen Überblick gewonnen. Hinter | |
Glasvitrinen und am Tresen gibt es Modelleisenbahnen und Zubehör, alles | |
detailliert und in Miniatur, in den Nenngrößen HO, N und – 1972 von Märklin | |
eingeführt – Z. | |
Mein eigentliches Ziel sind aber die Holzregale, die einen eigenen Bereich | |
bilden: In einem kleinen Gang, der – wie ich es wohl sehr romantisiert | |
verzerrt in Erinnerung habe – nur mit indirekter Beleuchtung ausgestattet | |
ist, wird auf einigen Metern das Gesamtprogramm der Fahrzeuge von | |
Wiking-Modelle angeboten, kleine Kunststoff-PKWs und -LKWs im Maßstab 1:87. | |
Meine Eltern wussten mich in Sicherheit, ich wäre niemals auf die Idee | |
gekommen, diesen Ort, der mir beinahe Wallfahrtsstätte war, zu verlassen. | |
Der große Säkularisierungsfortschritt, den der Konsumkapitalismus einst | |
bedeutete, nämlich aus dem von der christlichen Kirche selbst | |
verballhornten Weihnachtsfest (bei uns hat im von kleinen Kindern | |
vorgeführten Krippenspiel auch Darth Vader seinen Auftritt und sagt dem | |
Jesus-Baby mit ungeübt sonorer Stimme: »Ich bin dein Vater!«) ein an | |
materiellen wie metaphysischen Bedürfnissen orientiertes Fest der Geschenke | |
gemacht zu haben, zeigt nunmehr gerade auch im Spielzeugbereich offen seine | |
dialektische Seite des Rückschritts: Die von der Reklame vermittelten | |
Bilder der Bescherung muten wie pawlowsche Versuchsanordnungen an, bei | |
denen Wunsch und Wunscherfüllung wie ein infantiles Reiz-Reaktions-Schema | |
präsentiert werden; auf den Postern halten sediert wirkende Kinder in | |
Festtagskleidung mit der versteinerten Miene vermeintlicher Glückseligkeit | |
Riesenberge von pädagogisch geprüftem Plastikmüll in den Händen. | |
Solcher Kitsch vermag kaum die Trostlosigkeit zu kaschieren, die heute den | |
im kalten Neonlicht erstrahlenden Spielzeughandel dominiert. Die einst als | |
Paradiese gepriesenen Orte der Kindheit sind heute verlassen und verloren. | |
Roger Behrens, Jahrgang 1967, hätte gerne seinen Legokasten Universal Basic | |
Set 140 (mit Motor) zurück | |
15 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Roger Behrens | |
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