# taz.de -- hartz IV: Der Abschied als Signal | |
> In der Götterdämmerung der Großen Koalition taucht die Hartz-IV-Debatte | |
> wieder auf. Das eröffnet die Chance auf eine Neuorientierung der | |
> Sozialpolitik | |
Die rot-grüne Sozialreform von 2005, nach dem 2007 wegen Korruption | |
verurteilten ehemaligen VW-Manager Peter Hartz benannt, ist nach | |
jahrelanger Versenkung wieder in die politische Arena zurückgekehrt. Andrea | |
Nahles kündigt an, die SPD wolle im Zusammenhang mit ihrer Diskussion über | |
programmatische Erneuerung „Hartz IV hinter sich lassen“. Robert Habeck von | |
den Grünen schlägt vor, Hartz durch ein garantiertes Grundeinkommen zu | |
ersetzen, auf das alle einen gesetzlichen Anspruch haben sollen. | |
Prompt gab es aus der Union zu beiden Vorhaben ablehnende Stimmen. Die | |
jetzigen Regelungen sollten nicht infrage gestellt werden, vor allem die | |
Sanktionsmöglichkeiten, mit denen Hartz-IV-Empfänger zur Arbeitsaufnahme | |
gezwungen werden, seien unverzichtbar. Wir erinnern uns: Es war seinerzeit | |
vor allem die Union, die im Vermittlungsausschuss dafür sorgte, dass der | |
Gesetzentwurf der damaligen rot-grünen Regierungskoalition durch repressive | |
Sanktionsbestimmungen ergänzt wurde. | |
Die aktuellen Äußerungen aus SPD und Grünen-Partei zur Zukunft von Hartz IV | |
zeigen, dass die damaligen „Reformen“ in der Götterdämmerung der Großen | |
Koalition wieder zum aktuellen Thema werden – und dass sich eine | |
sozialpolitische und vielleicht auch parteipolitische Neuorientierung | |
ankündigt. Jahrzehntelang hat der Streit um Hartz IV die | |
Parteienkonstellation der Bundesrepublik geprägt: Einerseits verlor die SPD | |
ihre Bündnisfähigkeit zur Linken. Komplementär dazu hat sich die | |
Linkspartei in ihrer grundsätzlichen Kritik an Hartz IV bequem | |
eingerichtet, während die seinerzeit mitverantwortlichen Grünen zu diesem | |
Thema mehr oder weniger abgetaucht sind. Jetzt könnte die angekündigte | |
Abkehr von Hartz IV hin zu besseren sozialstaatlichen Standards das Tor für | |
eine jahrzehntelang blockierte Diskussion innerhalb und zwischen den | |
Mitte-links-Parteien endlich aufstoßen. | |
Es reicht nicht aus, allein auf eine Änderung der Hartz-IV-Bestimmungen zu | |
setzen. Wenn es um die Definition von Standards der sozialstaatlichen | |
Mindestsicherung geht, muss gleichzeitig der prekäre Bereich des | |
Beschäftigungssektors mit in den Blick genommen werden. 1,2 Millionen | |
Erwerbstätige verdienen gegenwärtig in Deutschland so wenig, dass sie auf | |
zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, stellte der | |
„Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz kürzlich fest. Und das ist | |
nur die Spitze des Eisbergs, denn arm trotz Arbeit ist man auch bei einem | |
Verdienst knapp über Hartz-IV-Niveau. | |
Wenn die Attraktivität von Erwerbsarbeit auch im Niedriglohnsektor in | |
Zukunft bei einem höheren Niveau sozialer Mindestsicherung gewährleistet | |
werden soll, muss der gesetzliche Mindestlohn deutlich angehoben werden, | |
zum Beispiel auf 12 Euro, wie die Hamburger SPD vorgeschlagen hat. | |
Gleichzeitig ist es notwendig, unternehmerische Willkür (Leiharbeit, | |
Befristungen, Scheinselbstständigkeit, Minijobs und so weiter) zu begrenzen | |
und den Menschen mehr Sicherheit innerhalb ihrer Beschäftigungsverhältnisse | |
zu geben. Der in jahrzehntelanger neoliberaler Gesellschaftspolitik auf | |
letzte Reste zusammengeschrumpfte zweite Arbeitsmarkt muss wieder aufgebaut | |
werden, um auch denjenigen eine Chance zu selbstbestimmtem Leben und | |
beruflicher Qualifizierung zu geben, die auf dem kommerziellen Arbeitsmarkt | |
keine Chance haben. Das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium hat | |
Ansätze dazu bereits angekündigt. | |
Schließlich muss auch das Arbeitszeitgesetz den unterschiedlichen und sich | |
je nach Lebenssituation verändernden Zeitbedürfnissen der Arbeitenden | |
angepasst werden, kombiniert mit dem Ausbau einer quantitativ und | |
qualitativ ausreichenden Betreuungsinfrastruktur für Kinder und Alte. Nur | |
so kann verhindert werden, dass Menschen, zum Beispiel alleinerziehende | |
Eltern, aus dem Erwerbssektor gedrängt werden, also neue Arbeitslosigkeit | |
und daraus resultierende Hilfsbedürftigkeit entsteht. | |
All diese Themen zukünftiger Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müssen | |
mitgedacht werden, wenn ernsthaft über eine Alternative zu Hartz IV | |
verhandelt wird. Selbstverständlich gehört dazu auch, dass das alles nicht | |
umsonst zu haben ist. Mit dem Abschied von Hartz IV, mit einer | |
umfassenderen Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird die Frage | |
aufgeworfen, wie der gesellschaftliche Reichtum in Deutschland neu und | |
anders verteilt wird. Eine höhere Besteuerung des überbordenden privaten | |
Reichtums zugunsten einer sozialstaatlich orientierten Politik dürfte | |
heftigsten, mit populistisch zugespitzten Horrorszenarien untermalten | |
Widerstand in Parteien und Medien hervorrufen. Aber wenn die Umverteilung | |
offensiv vertreten wird, wenn nach jahrzehntelanger Begünstigung der | |
Vermögenden und lähmender GroKo-Stagnation das Gerechtigkeitsgefühl der | |
Menschen mobilisiert wird, kann der Abschied von Hartz IV zum Signal für | |
eine Neuorientierung der Politik werden. | |
Es geht also um mehr als nur die Abschaffung von Hartz IV. Es geht auch | |
darum, dass sich die Mitte-links-Parteien – jede für sich und alle zusammen | |
– untereinander bündnisfähig machen. Man kann Hartz IV nicht einfach nur | |
hinter sich lassen, wie die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles es möchte. Es ist | |
auch nicht wirklich überzeugend, wie der Grünen-Vorsitzende Habeck mal | |
locker ohne weitere Zusammenhänge ein Grundeinkommen in den politischen | |
Ring zu werfen. Und es wäre eine kurzsichtige Politikverweigerung, nur und | |
immer wieder das Hartz-IV-System als unverzeihlichen Sündenfall der | |
Sozialdemokratie anzuprangern – ein Abgrenzungsritual, in dem sich die | |
Linkspartei mehr als zehn Jahre gefallen hat. Die Diskussionsanstöße von | |
Nahles und Habeck eröffnen eine Chance für alle Beteiligten, wenn sie eine | |
inhaltliche politische Debatte einleiten – parteiübergreifend und nicht | |
parteitaktisch. | |
13 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Kempe | |
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