# taz.de -- Ohne Zukunft | |
> Masha Gessen legt in ihrem neuen Buch Russland auf die Couch. Im | |
> kommenden Jahr erhält sie dafür den Leipziger Buchpreis zur Europäischen | |
> Verständigung | |
Bild: Masha Gessen in ihrer Wohnung im New Yorker Stadtteil Harlem Foto: | |
Von Barbara Kerneck | |
Die Geschichte des nachsowjetischen Russland von der Perestroika bis heute | |
hat noch niemand so erzählt wie Masha Gessen – in einem historischen Bogen | |
und doch aus vielen persönlichen Perspektiven. „Ich wollte zeigen, wie | |
Russland selbst in dieser Zeit gewesen ist – und wie es wurde, was es heute | |
ist“, sagt die Autorin im Vorwort zu ihrem neuen, fast 600 Seiten starken | |
Buch „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und | |
verlor“. Letzte Woche wurde bekannt, dass ihr der Leipziger Buchpreis zur | |
Europäischen Verständigung 2019 zuerkannt wird. | |
1967 als russische Jüdin in Moskau geboren, emigrierte sie mit ihrer | |
Familie in die USA, als sie 14 Jahre alt war. 1991 kehrte sie nach Russland | |
zurück und berichtete von dort für New York Times und Washington Post. 2013 | |
verließ die führende LGBT-Aktivistin wegen der zunehmenden Repressionen | |
gegen Homosexuelle Russland und ging nach New York zurück. Sie fürchtete, | |
man würde ihr ihren in Russland adoptierten Sohn wegnehmen. | |
Die vorliegende Geschichte erzählt sie anhand ausführlicher Interviews mit | |
vier um 1984 geborenen HeldInnen des russischen Alltags: Ljoscha, Mascha, | |
Shanna und Serjosha. Dazu schildert sie den beruflichen Werdegang dreier | |
Theoretiker, welche den Geisteszustand der russischen Gesellschaft | |
abbilden. Es sind die Psychotherapeutin Marina Arutjunjan, der Soziologe | |
Lew Gudkow und Putins ultrarechter Hofphilosoph Alexander Dugin. Viele | |
westliche Philosophen waren in der Sowjetunion verboten, ebenso die | |
Psychoanalyse und jegliche soziologische Forschung. Es ist ein Verdienst | |
dieses Buches zu zeigen, wie dieser traditionelle Mangel an | |
Erklärungsmöglichkeiten auch auf die vier jugendlichen AlltagsheldInnen | |
lähmend wirkte. | |
Zwei der jungen AlltagsheldInnen, Shanna Nemzowa und Sergej Jakowlew | |
(Serjosha), stammen aus privilegierten Familien und erinnern sich kaum an | |
die bittere Armut am Ende der Sowjetunion. Shannas Vater Boris Nemzow, der | |
strahlend junge Gouverneur der Stadt Nischni Nowgorod unter Jelzin, wurde | |
später zur einzigen oppositionellen Führungsgestalt, die dem Präsidenten | |
Putin ein politisches Konzept entgegenstellen konnte. Im Jahre 2015 | |
erschossen ihn Unbekannte an der Kremlmauer. Serjoshas Großvater, Alexander | |
Jakowlew, war ein enger Gorbatschow-Berater. | |
In dem Maße, in dem die jungen ProtagonistInnen ihren Alltag als Erwachsene | |
beobachten, kommen ihre Erzählungen in Fahrt, etwa ab der Amtsübernahme | |
Wladimir Putins. Wie ein Husarenstückchen liest sich die Karriere des | |
homosexuellen Ljosha aus der Provinz. Im Jahr 2006, als der Staat bereits | |
an Gesetzen gegen „homosexuelle Propaganda“ bastelt, verteidigt er im Ural | |
gegen schwere Hürd en eine Dissertation zu einem Schwulenthema und wird | |
Dozent an der dortigen Universität. | |
Im Dezember 2011 brechen angesichts der schamlosen Fälschungen bei den | |
Dumawahlen vielerorts Massenunruhen aus. Hunderttausende gehen auf die | |
Straßen, erneut im Frühjahr 2012, als sich Wladimir Putin das | |
Präsidentenamt zurücknimmt, welches er für eine Amtsperiode an den | |
Strohmann Dmitri Medwedjew abgegeben hatte. Nie zuvor sind diese | |
monatelangen Proteste so atemberaubend geschildert worden wie hier – aus | |
dem Mund von Gessens Alltagsprotagonistin Mascha, die sich in dieser Zeit | |
zur Politaktivistin entwickelt. Die repressive Zerschlagung der Bewegung | |
folgt auf dem Fuße. Eine Reihe von Gesetzen verfügt drakonische Strafen | |
schon für kleine Ordnungswidrigkeiten. Mascha zieht sich im Jahre 2016 | |
erschöpft zurück. Sie fühlt sich auch danach nicht sicher, weil | |
DemonstratInnen noch immer selektiv vor Gericht gestellt werden. Die | |
Bedingungen in russischen Gefängnissen und Arbeitslagern sind | |
lebensfeindlich, die Verurteilung von Unschuldigen zu mehrjährigen | |
Haftstrafen an der Tagesordnung. | |
Der Soziologe Lew Gudkow leitet heute das einzige noch unabhängige | |
Meinungsforschungsinstitut Russlands. Seine Umfragen zeigen, dass sich die | |
Russen zunehmend nach sowjetischen Verhältnissen zurücksehnen. Die | |
Popularität Putins wuchs bisher mit jedem Krieg, den Moskau begann, sogar | |
in Zeiten schnell schwindender wirtschaftlicher Konjunktur. | |
Und was ist derweil aus Masha Gessens anderen AlltagsheldInnen geworden? | |
Serjosha verfiel in eine tiefe Depression. Shanna Nemzowa lebt nach der | |
Ermordung ihres Vaters in Bonn. Sie leitet eine Stiftung mit dem Namen | |
ihres Vaters. Ljosha hat sich vor der aggressiven Gesetzgebung gegen | |
Homosexuelle und den mörderischen Anschlägen auf sie längst in die USA | |
geflüchtet. Wie die Autorin selbst. | |
Wer Russland verstehen möchte, kommt um dieses Buch nicht herum. | |
8 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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