# taz.de -- Raus aus der Klasse und wieder zurück in die Klasse | |
> Trend oder Kehrtwende in der linken Politik? Eine Vielzahl von | |
> Publikationen beschäftigt sich aktuell mit der sozialen Frage | |
Bild: Immer mehr prekäre Jobs, aber was folgt politisch daraus? | |
Von Christopher Wimmer | |
Die soziale Frage kehrt zurück auf die Tagesordnung des Feuilletons. Im | |
realen Leben war sie selbstverständlich nie verschwunden. Arbeitslosigkeit, | |
Obdachlosigkeit oder Sozialhilfebezug ist für diejenigen, die sie erleben, | |
bitterer Alltag. Innerhalb der Sozialwissenschaften wird dies aktuell | |
verstärkt reflektiert. Im Blätterwald rauscht es von Neuer Klassenpolitik, | |
und in der begleitenden Twitter-Kampagne #unten erzählen Menschen von Armut | |
und Ausgrenzung. | |
Klasse und Klassenpolitik scheinen wieder en vouge zu sein. Jahrzehntelang | |
wurde die Existenz von Klassen geleugnet – sowohl von der Wissenschaft als | |
auch der politischen Linken. Der französische Soziologe Didier Eribon hat | |
in seinem in Deutschland viel gelesenen Buch „Die Rückkehr nach Reims“ | |
diese Sprachlosigkeit der Linken zu Fragen der sozialen Ungleichheit auf | |
den Punkt gebracht. | |
Die Unfähigkeit, gegen den so genannten Rechtsruck und den neoliberalen | |
Kapitalismus vorzugehen, führt auf der politischen Linken zu gegenseitigen | |
Vorwürfen: Engagement gegen Sexismus oder Rassismus laufe Gefahr, im | |
Partikularen zu verbleiben, sagen die einen. Klassenpolitik habe immer den | |
Anschein von Haupt- und Nebenwiderspruch, so die anderen. Daraus erwächst | |
der Scheingegensatz zwischen „Identitätspolitik“ und „Klassenpolitik“. | |
Dass die Linke hiermit auf dem Holzweg ist, haben die Autor*innen des | |
lesenswerten Sammelbands „Neue Klassenpolitik“ verstanden. Die Sammlung von | |
über 30 Beiträgen, die in den vergangenen Monaten in der Zeitung analyse & | |
kritik erschienen, will diesen Gegensatz aufheben und „ein breites Spektrum | |
der aktuellen Diskussionen um eine Neue Klassenpolitik“ abdecken. | |
Doch wie wird Klassenpolitik hier verstanden? Als Minimalkonsens könnte man | |
sagen: Sie muss antirassistische, feministische usw. Kämpfe der vergangenen | |
Jahrzehnte aufnehmen. | |
Ausgangspunkt, so Sebastian Friedrich, Herausgeber des Bandes, ist also | |
auch die Erkenntnis, dass „die Trennung zwischen Klasse auf der einen Seite | |
und Antirassismus und Feminismus auf der anderen Seite keinen Sinn ergibt.“ | |
Die Beiträge versammeln auf prägnante Weise verschiedene Teilbereiche, in | |
denen sich die Neue Klassenpolitik bewähren müsse. | |
Ebenfalls unter dem Titel „Neue Klassenpolitik“ hat Bernd Riexinger, | |
Parteichef der Linken, unlängst sein Buch veröffentlicht und beweist damit, | |
dass die Debatten auch im parteipolitischen Feld angekommen sind. Riexinger | |
formuliert seinen „inklusiven Klassenbegriff“ so: „Es geht um die | |
Neudefinition des Begriffs der Solidarität und die Verbindung | |
verschiedener Gruppen und Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen zur | |
Herausbildung eines politischen Blocks, der für fortschrittliche Politik im | |
21. Jahrhundert steht.“ Klassenpolitik müsse konkrete Projekte | |
organisieren, die an Kämpfe und Erfahrungen der Menschen anschließen. | |
Wie diese Erfahrungen konkret aussehen, zeigt Veronika Bohrn Mena | |
anschaulich: Für ihr Buch „Die Neue ArbeiterInnenklasse“ hat sie zehn | |
Personen interviewt, die unter prekären Bedingungen arbeiten. An ihnen wird | |
deutlich, wie die prekären Jobs sich auch auf andere Lebensbereiche | |
auswirken. | |
Wer sich all diese Publikationen um Neue Klassenpolitik näher ansieht, | |
kann schnell ins Taumeln geraten angesichts der vielen Bereiche, die dort | |
angesprochen werden. Die Geschlechterfrage und die Migration sollen | |
ebenso eine Rolle spielen wie der Internationalismus, die Gewerkschaften | |
und die Alltagspraxen. Oder die gesellschaftliche Marginalisierung ebenso | |
wie die Frage der neuen Ausbeutungsformen durch die Digitalisierung. Frei | |
nach Marx: „Fahrradkuriere, Pflegekräfte, Schichtarbeiterinnen, | |
Crowdworker, Selbstständige und Journalistinnen, vereinigt euch!“ | |
Dagegen ist nichts einzuwenden, aber ist das alles wirklich neu? Klasse war | |
schon immer mehr als eine homogene Masse. | |
Lesenswert ist hierfür die Neuauflage von Hans-Günter Thiens Buch „Die | |
verlorene Klasse“. Ebenfalls als Sammelband konzipiert, erschien es zuerst | |
vor zehn Jahren. In den Texten scheint eine erstaunliche Verwandtschaft mit | |
den aktuellen Debatten auf. Diskussionen über den Begriff der Klasse als | |
analytische Kategorie oder über die Rolle des Begriffs für die politische | |
Mobilisierung sind dort bereits geführt worden. Sie zeigen: Dass Klasse aus | |
der ökonomischen Verengung herausgeholt werden und das ganze Leben in den | |
Blick genommen werden muss, das wussten die fortschrittlichen Teile der | |
Arbeiterbewegung schon immer. | |
Das Neue an der neuen Klassenpolitik ist also nicht die Erkenntnis, | |
verschiedene Kämpfe verbinden zu müssen, sondern die Erinnerung daran, dass | |
dies schon mal gedacht wurde. Unter derzeitigen gesellschaftlichen | |
Bedingungen ist das allerdings schon ziemlich viel. | |
„Klassenbewusstsein entsteht durch Erfahrung und deren bewusste | |
Verarbeitung“, schreibt Bernd Riexinger zu Recht. Die Frage bleibt nur, wer | |
all dies machen soll. Und welche Kämpfe sind eigentlich bereits | |
Klassenkämpfe? Ist es die Besetzung von Wohnungen, ist es das kollektive | |
Fahren ohne Ticket, um für günstigeren Nahverkehr zu demonstrieren, oder | |
sind es nur die klassischen Lohn- und Gewerkschaftskämpfe? Sie alle können | |
zu Klassenkämpfen werden. Es muss nur gelingen, eine Politik des | |
Antagonismus zu formulieren. Die vorgestellten Bücher geben einen Hinweis | |
darauf. Sie zu lesen ist ein erster Schritt, der die Praxis anleiten, aber | |
nicht ersetzen kann. | |
24 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Christopher Wimmer | |
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