# taz.de -- Istanbul, eine deutsche Fantasie | |
> Im Ersten Weltkrieg wurde der 19-jährige Georg Steinbach nach Istanbul | |
> geschickt. Nun sind seine Memoiren als Buch erschienen | |
Bild: Eine Postkarte aus dem Jahr 1917: Open Air-Konzert am Taksimplatz | |
Von Verena Niepel | |
An den Prinzessinneninseln vorbei erreichten wir am späten Nachmittag | |
Istanbul. Es war ein bewegender Moment, als wir an Land gingen und ich fast | |
auf dem Meter genau dort stand, wo ich damals als Soldat stand. Das war vor | |
45 Jahren!“, so erinnerte sich Georg Steinbach an seine Zeit in Istanbul | |
als deutscher Rekrut im Ersten Weltkrieg. Bei einer zweiten Reise an den | |
Bosporus im Jahr 1963 ist die Ankunft für ihn ein bewegender Moment, den er | |
in einem Brief an seinen ehemaligen Arbeitgeber Karl Levi festhält. | |
Georg Steinbachs Urenkel Ruben Gallé las den Briefwechsel mit Levi und | |
bekam erst so einen Eindruck seines 1975 verstorbenen Urgroßvaters. In | |
dessen Nachlass fanden sich aber auch persönliche Erinnerungen, die Georg | |
Steinbach, nach seinem fünfmonatigen Einsatz zurück in der rheinhessischen | |
Provinz, festgehalten hatte. Zusammen mit dem stellvertretenden Direktor | |
des Orient-Instituts in Istanbul, Richard Wittmann, hat Gallé die Memoiren | |
nun als Buch herausgegeben. | |
Die Erinnerungen führen zurück in das Jahr 1918. Deutschland führte die | |
Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und wurde seit November 1914 vom | |
Osmanischen Reich mit den Deutsch-Asien-Korps, der sogenannten | |
Pascha-Armee, vor Ort unterstützt. Im Alter von nur 19 Jahren hatte sich | |
der angehende Textilhändler Steinbach freiwillig zum militärischen Einsatz | |
im damaligen Konstantinopel gemeldet. | |
## Projektionsfläche Istanbul | |
Das Osmanische Reich kannte er bislang nur aus Karl-May-Romanen, dem | |
Geografieunterricht und Kinofilmen. Istanbul war eine Art Sehnsuchtsort für | |
den Rekruten, der militärische Einsatz in der Türkei eine seltene | |
Reisemöglichkeit. Während der Soldatenalltag an der Westfront von großem | |
Leid und Schützengräben geprägt war, musste Steinbach während seines | |
Aufenthalts in Istanbul nie an die Kriegsfront. Er nutzte die Zeit, um in | |
das Treiben der Metropole einzutauchen. | |
Jeden Sonntag hatte er frei und machte Ausflüge. „Jetzt bin ich oben in | |
Pera! Man meint in einer Großstadt Deutschlands zu sein, denn hier ist das | |
Europaviertel. Die Banken, die Geschäfte, die Lebensmanieren, alles ist auf | |
das moderne Europa gestimmt“, schreibt er über die Metropole. | |
Steinbachs Betrachtungen sind nicht frei von Klischees eines märchenhaften | |
Orients, in denen sich exotistische Fantasien widerspiegeln. Istanbul wird | |
zur Projektionsfläche des jungen Soldaten. So schreibt er über einen | |
Besuch auf dem Großen Basar: „Dort nun ist der „grande Bazar“! In jedem … | |
uns sind wohl die Märchen aus tausend und einer Nacht lebendig.“ Auch | |
Überlegenheitsgefühle mischen sich in seine Aufzeichnungen, etwa wenn er | |
von „diesen kleinen braunen Kerle[n]“ spricht. | |
Damit bewegt sich Steinbach im Diskurs seiner Zeit, der über die | |
Konstruktion des Anderen seine eigene überlegene Rolle festigt. „Die | |
Vorstellungswelt meines Urgroßvaters war sicherlich geprägt von dem damals | |
in Deutschland und Europa vorherrschenden klischeebeladenen Bild des | |
Orients als exotischem Sehnsuchtsort zwischen Sinnlichkeit und Dekadenz“, | |
schreibt der Urenkel in dem Vorwort der kürzlich veröffentlichten Memoiren. | |
Zugleich sind Steinbachs Aufzeichnungen von Interesse für die ihm | |
unbekannten kulturellen Gebräuche geprägt. Bei einem Besuch in einem | |
Sufi-Kloster beschreibt er akribisch über mehrere Seiten hinweg den Tanz | |
der Derwische. Auch den muslimischen „Ramasan“ nimmt er in seine | |
Erinnerungen auf und vergleicht ihn mit der christlichen Weihnacht. | |
Während seines Aufenthalts hat Steinbach auch ein paar Wörter Türkisch | |
aufgeschnappt. Er kennt „Eckmeck“, weil es seine Aufgabe war, Brot an die | |
Soldaten zu verteilen. Auch viele Begriffe, die ihm auf den Straßen | |
Istanbuls begegnen, behält er im Kopf: „Es kommt der „Eckmecktschi, | |
„Joghurttschi“, „Kaffeetschi“, „Melonentschi“ und all die anderen �… | |
und alle handeln – handeln und haben ihr Auskommen.“ | |
Obwohl seine Erinnerungen an den meisten Stellen eher einem | |
orientalistischen Reisebericht gleichen, muss der junge Mann durchaus auch | |
in Istanbul etwas vom Kriegsgeschehen mitbekommen haben. Im Jahr 1918 war | |
ein brutaler Umgang mit Minderheiten und Soldaten auch in der Metropole | |
erfahrbar. Die wurden unter dem Schlachtruf des Dschihads, des islamischen | |
Krieges, in die letzten Gefechte geschickt. | |
## Keine Trennung zwischen Realität und Fiktion | |
Steinbach berichtet allerdings lediglich von Verwundeten, die nach Istanbul | |
gebracht wurden. „Gelegentlich gab es auch Angriffe von englischen | |
Flugzeugen und man hatte Angst vor der russischen Flotte, aber direktes | |
Kampfgeschehen bleibt ihm erspart. Was er gesehen haben muss, hat er aber | |
sehr schonend in das Tagebuch eingeführt“, erzählt Wittmann. Über den | |
Völkermord an den Armeniern, der im Osmanischen Reich nur zwei Jahre zuvor | |
verübt worden war, ist in Steinbachs Aufzeichnungen nichts zu lesen. | |
Teilweise waren die Tagebücher oder Erinnerungen auch mit dem Ziel | |
geschrieben, dass es die Familie eines Tages lesen würde. Aus dem Grund | |
spart Georg Steinbach gewisse Details komplett aus, wie zum Beispiel das | |
direkte Erleben von brutalen Szenen. Doch auch von Gewalt durfte er nicht | |
nur indirekt etwas mitbekommen haben. Etwa, wenn er schreibt: „Da erzählt | |
uns ein Kamerad, daß drüben am Taximplatz die fahnenflüchtigen Türken | |
gehängt wurden. Ich sehe im Kasernenhof tatsächlich viele rekrutierte | |
Menschen, die zu zweien mit Handschellen aneinander gefesselt sind. Sie | |
sollen Soldaten werden.“ Bei diesen Passagen hinterfragt Wittmann, ob | |
Steinbach sie tatsächlich selbst erlebt hat oder nur vom Hörensagen wusste. | |
Wie kann ein solches Selbstzeugnis eingeordnet werden, wenn Fiktion und | |
Realität nicht scharf zu trennen ist? Wittmann plädiert dafür, die | |
Schriften auch oder vor allem danach zu untersuchen, was nicht geschrieben | |
wird, und ihnen dann eine Stimme in der Wissenschaft zu geben. Während | |
bisher Selbstzeugnisse vor allem für die Rekonstruktion spezifischer | |
Ereignisse wie Verfolgung und Massenmord herangezogen wurden, sei es ein | |
Anliegen des Projekts, Selbstzeugnisse generell als Quellen für die | |
geschichtliche Forschung zu verwenden. Das Interesse an Memoiren von | |
alltäglichen Erzählungen wächst. Denn manchmal sind es genau die | |
Schilderungen von Menschen, die nicht in die Geschichte eingegangen sind, | |
die große Ereignisse, wie den Ersten Weltkrieg, nahbar machen und zum | |
Nachdenken bewegen. | |
17 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Verena Niepel | |
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