# taz.de -- Die Scham des Mädchens von 1958 | |
> Eine Hündin, die gestreichelt werden möchte und einen Tritt bekommt: In | |
> ihrer „Erinnerung eines Mädchens“ nähert sich Annie Ernaux dem tiefsten | |
> Punkt | |
Bild: Die Geschichte ihrer Scham ist bei Ernaux auch die Geschichte ihrer Herku… | |
Von Hanna Engelmeier | |
Während des Sommers 1960 war Annie Ernaux, damals noch: Annie Duchèsne, | |
Au-pair-Mädchen im englischen Finchley. Ihren Namen sprachen die Mitglieder | |
der Familie, für die sie arbeitete, wie „any“ aus, wie das | |
„Indefinitpronomen, das ‚irgendetwas‘ oder ‚irgendwer‘ bedeutet“. D… | |
Egalwerden kam der damals 19-Jährigen ganz recht, es nahm ihr die Identität | |
des „Mädchens von’58“, einer früheren Version ihrer selbst. Diese steht | |
jedoch im Zentrum des autobiografischen Romans „Erinnerung eines Mädchens“ | |
von Annie Ernaux, der nun bei Suhrkamp erschienen ist. | |
Das Erinnern Ernaux’ hat in diesem Buch einen tiefsten Punkt, nach dem sie | |
in ihrem Text gräbt, der viele Vorgängerversionen hatte, wie sie schreibt. | |
Im Sommer 1958 arbeitet sie als Betreuerin in einer Ferienkolonie für | |
Kinder. Eines Abends geht sie dort mit einem anderen Betreuer, den sie im | |
Buch nur H nennt, auf ihr Zimmer, wo er sie vergewaltigt. Ernaux’ Memoiren | |
sind die Geschichte einer großen Scham, die nicht erst nach diesem Ereignis | |
einsetzt, aber erst danach zu einem Gefühl wird, das alle ihre | |
darauffolgenden Handlungen und Entscheidungen bestimmt. | |
Diese Scham bezieht sich nicht allein auf das Gefühl, sexuelle Gewalt | |
erfahren zu haben, oder sogar: ihr Opfer gewesen zu sein (Opfer ist kein | |
Wort, das in Ernaux’ Vokabular der Selbstbeschreibung vorkommt), denn dass | |
dies der Fall sein könnte, kommt ihr erst Jahrzehnte später in den Sinn. | |
Ernaux schämt sich dafür, den Kollegen begehrt zu haben, und mit ihrem | |
Begehren aufgelaufen zu sein: Er zeigt ihr ein Foto seiner Verlobten und | |
erteilt ihr vor den Augen aller anderen Betreuerinnen und Betreuer eine | |
herbe Abfuhr. Sie schämt sich dafür, nicht geliebt zu werden, weder von H | |
noch von den Kolleginnen, mit denen sie sich anfreunden möchte. | |
In der Nacht, die sie mit H verbringt, ohne irgendeine Idee davon zu haben, | |
was zwischen ihnen passieren könnte, außer dass es sich wohl um eine | |
„Liebesnacht“ handeln müsse, ist der einzige Wille, den sie hat, seinen | |
Willen erfüllen zu können. Ernaux beschreibt hier nicht die Auslöschung | |
eines weiblichen Subjekts, sondern ihre damalige Selbstkonzeption. In | |
dieser gibt es das weibliche Subjekt nur als Hohlkörper, in den die Masse | |
eines männlichen Subjekts hineingedrückt wird. | |
Nachdem H ihr seinen Penis in den Mund geschoben und abgespritzt hat, | |
sitzen sie auf dem Bett. Sie bietet ihm Haselnussschokolade an. Sie hofft, | |
dass es nicht die letzte Nacht dieser Art gewesen sein möge, denn sie wurde | |
ja gewollt. Nichts anderes zählt: Kurz danach wagt sie es, eine andere | |
Kollegin ihre Freundin zu nennen, die aber antwortet ihr: „Was? Nein! Wo | |
haben wir denn zusammen Schweine gehütet?“ | |
Das Mädchen von’58 ist eine brillante Schülerin und ein Einzelkind, das | |
nach selbst der schäbigsten Form von Gemeinschaft riesige Sehnsucht hat, | |
„und das Entsetzen darüber, wie schlecht ich mich gefühlt habe, wird nicht | |
kleiner, eine Hündin, die gestreichelt werden möchte, und einen Tritt | |
bekommt“. | |
Die Scham des Mädchens von ’58 bezieht sich auf ein Begehren, die eigene | |
Bedürftigkeit gestillt zu sehen, in sexueller, emotionaler und | |
intellektueller Hinsicht. Ernaux’ Buch ist unendlich befriedigend, weil es | |
die Überlagerung dieser verschiedenen Bedürfnisse zeigt, und es ist absolut | |
niederschmetternd, weil es von ihrer umfassenden Missachtung handelt und | |
davon, wie wenig Interesse es 1958ff. anscheinend gab, einem Mädchen wie | |
Annie Duchèsne Mittel an die Hand zu geben, diese Missachtung zu erkennen. | |
Das Mädchen von’58, das noch keine Schriftstellerin ist, entwickelt eine | |
Bulimie. Der Wechsel von Einverleiben und Ausscheiden als Sklavenarbeit für | |
den eigenen Körper hört erst auf, als sie von Annie Duchèsne zu „any“ und | |
schließlich zu Annie Ernaux wird. | |
In ihrem Buch „Die Jahre“, das im vergangenen Jahr ebenfalls in der klaren | |
und differenzierten Übersetzung von Sonja Finck erschien, ist es Ernaux | |
gelungen, einen Zwischenraum zwischen dem Ich einer Erzählerin und dem Du | |
der Leserinnen und Leser zu schaffen, in dem sich Autobiografie auf einem | |
bis dahin selten erreichten Niveau entfalten konnte. | |
Ernaux arbeitete hier immer in der dritten Person Singular und schrieb | |
sowohl von „ihr“ als auch und vor allem von dem, was „man“ erlebt. Dies… | |
therapeutischen Kontexten hart sanktionierte Form der Selbstdistanzierung | |
setzte im literarischen Text eine eigentümliche Intimität frei, die es | |
akzeptabel erscheinen ließ, dass es tatsächlich die Form „kollektiver | |
Autobiografie“ geben könnte, von der Ernaux selbst spricht. | |
Während sich „Die Jahre“ für das kulturelle Gedächtnis und seine | |
Überschneidungen mit dem persönlichen Gedächtnis einer Person interessiert, | |
verengt „Erinnerung eines Mädchens“ die Autobiografie auf einen kleineren | |
Kreis von Ereignissen. Die Geschichte eines der größten und schwierigsten | |
Gefühle, der Scham, ist bei Ernaux auch die Geschichte ihrer Herkunft. | |
Das Buch setzt damit ein, wie sie auf dem Weg in die Ferienkolonie ihre | |
Mutter am Bahnhof hinter sich zurücklässt, und arbeitet sich immer wieder | |
daran ab, wie sie sich durch ihre Schulausbildung und ihr Studium immer | |
weiter von den Krämereltern entfernt, die selbst im Alter von zwölf Jahren | |
zum Abbruch ihrer Schullaufbahn gezwungen wurden. | |
Das Mädchen von’58 möchte das begrenzte Wissen der Eltern überschreiten, in | |
der Hoffnung, so auch ihre soziale Klasse verlassen zu können. Ihr Begehren | |
ist in dieser Hinsicht funktional: Das Streben nach sexuellem und | |
intellektuellem Umgang mit Personen, deren Herkunft sie als der eigenen | |
überlegen betrachtet, ist Teil ihres Abschiedes von den Eltern. Sie hat sie | |
aber niemals ganz verlassen und ist in ihren Büchern immer bei ihnen | |
geblieben. Ohne Verleugnung und ohne Verklärung. Annie Ernaux’ kollektive | |
Autobiografien sind unendlich starke Werkzeuge dafür, individuelle Leben zu | |
verstehen. | |
17 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Hanna Engelmeier | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |