| # taz.de -- Arm, aber nicht sexy | |
| > Lucia Chiarlas „Reise nach Jerusalem“, beim Achtung Berlin Festival als | |
| > bester Spielfilm ausgezeichnet, erzählt vom Alltag einer arbeitslosen | |
| > Frau | |
| Von Katharina Böhm | |
| Es gibt im Alltag viele Fragen, die sehr vorhersehbar, aber auch sehr | |
| ermüdend sind. Noch leicht zu parieren: „Wie geht’s?“ Schwieriger wird e… | |
| wenn sich nicht einsilbig antworten lässt. Das unvermeidbare „Und was | |
| machst du (jetzt) so?“ trifft diejenigen am härtesten, die ihre Antwort | |
| vorbereiten müssen, weil sie keine respektable Antwort parat haben. Man | |
| erkennt sie etwa daran, dass sie schon Auskunft geben, bevor überhaupt | |
| danach gefragt wurde. Alice Lidell, die Hauptfigur in Lucia Chiarlas Film | |
| „Reise nach Jerusalem“, ist so ein Mensch. Eva Löbau spielt sie so | |
| treffsicher zwischen Kontrolle und Kollaps, dass man auch im Publikum | |
| beinahe das Ausatmen vergisst. | |
| Wäre Alice bei Twitter, könnte sie live darüber berichten, was #unten zu | |
| sein bedeutet. Während die arbeitslose Redakteurin früheren Kolleginnen und | |
| Bekannten von den Vorzügen eines Freelancer-Daseins und „verschiedensten | |
| Auftraggebern“ vorlügt, hält sie sich mit allerlei Maßnahmen über Wasser. | |
| Nur ihre Eltern (Spoiler: nicht reich) wissen, dass Alice von Hartz IV | |
| lebt. Weil sie will, dass das so bleibt, klingelt ihr Wecker früh – die | |
| Jobsuche wächst sich leicht mal zur Vollbeschäftigung aus. Im Jobcenter | |
| drängt man unterdessen. Ein letztes Bewerbungstraining soll helfen. Als | |
| Alice das fassungslos abbricht, zwingen die prompt folgenden Sanktionen sie | |
| zu noch kurioseren Stunts. | |
| ## Am Rand der Verzweiflung | |
| Was so ein realistisches Trauerspiel sehenswert macht? Am Rande der | |
| Verzweiflung findet sich nicht selten ein Grund, zu lachen. Vor allem aber | |
| ignoriert der Film, ohne viel Aufhebens davon zu machen, eine ganze Reihe | |
| überholter wie hartnäckiger Klischees. Allen voran das des wahlweise | |
| asozialen/alkoholsüchtigen/ausländischen Hartz-IV Empfängers, das auch | |
| unter eifrigem Mitwirken von Politik und Medien geprägt wurde. (Nicht nur | |
| Florida-Rolf lässt grüßen.) Wer hätte gedacht, dass Leute Bewerbungen sogar | |
| für Jobs schreiben, die sie dann wegen Überqualifizierung nicht erhalten? | |
| Die Geschichte führt außerdem vor, wie der Arbeitslosenstatus Rollen und | |
| Machtgefälle verschiebt: „Sie sollten dankbar sein, in anderen Ländern | |
| wären Sie jetzt mit drei Jobs beschäftigt“, erfährt Alice beim Amt. Sätze, | |
| auf die man gern einen Schnaps trinken würde, weil man ihnen auf der | |
| falschen Seite des Schreibtischs kaum Besseres entgegenzusetzen hat. | |
| Bevormundet zu werden fühlt sich mit 39 noch schlechter an als damals mit | |
| 16. | |
| Von oben herab bemitleiden muss man die Protagonistin überdies nicht. Sie | |
| mag als Verliererin gelten, doch die Arbeitswelt, an der sie verzweifelt, | |
| ist zugleich auch unsere. Frauen wie ihr auf der Leinwand zu begegnen, wo | |
| die Devise sexy gerade durch strong ersetzt (aber kaum abgelöst) wird, darf | |
| man unbedingt als Fortschritt verstehen. | |
| Dass weiblichen Losern, die den Nachbarn mangels Alternativen mit | |
| Tankgutscheinen für Sex bezahlen, einmal ganze Festivals gewidmet werden, | |
| wie es beim – zugegebenermaßen cooleren – Dude aus „The Big Lebowski“ … | |
| Fall ist, scheint zwar in sehr weiter Ferne; doch die Hoffnung stirbt | |
| bekanntlich zuletzt. Zum Vorbild taugt Alice ohnehin eher, weil sie | |
| Erlösung nicht in einem neuen Mann sucht. Stattdessen überlässt sie ihr | |
| Bett einem Paar aus Paris. Auf „arm, aber sexy“ folgt Airbnb. | |
| So wirft die in Berlin lebende Italienerin Lucia Chiarla den Blick nicht | |
| nur hinter die Fassade ihrer Protagonistin. Sie kratzt ebenso am Bild der | |
| ach so hippen Partystadt, mit dem auch Regisseure in den vergangenen Jahren | |
| bereitwillig Kasse machten. Dass „Reise nach Jerusalem“ den Berlin-Mythos, | |
| der längst zur Marke geworden ist, nicht fortschreibt, sollten dem Film | |
| alle danken, die in dieser Stadt tatsächlich leben. | |
| „Reise nach Jerusalem“. Regie: Lucia Chiarla. Mit Eva Löbau, Veronika | |
| Nowag-Jones u. a. Deutschland 2018, 118 Min. | |
| 15 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Böhm | |
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