# taz.de -- Nachweisliche Lügen | |
> Das Museum wird der bessere Gerichtssaal und die Kunst das effektivere | |
> Medium der Verteidigung demokratischer Werte: Forensic Architecture im | |
> Haus der Kunst | |
Bild: Temme muss das Schießpulver gerochen haben: Simulation, wie sich die Sch… | |
Von Luise Glum | |
Der NSU-Prozess gehört seit dem 11. Juli 2018 offiziell der Vergangenheit | |
an. Dabei war der staatliche Umgang mit den 10 Morden von Beginn an | |
dermaßen unbefriedigend, dass das Wort „Staatsversagen“ fast wie ein | |
Euphemismus klingt. Immer wieder wurde besonders die Annahme der | |
Bundesanwaltschaft, der NSU sei ein isoliertes Trio mit wenigen | |
Unterstützern gewesen, kritisiert, weil viel für ein großes neonazistisches | |
Netzwerk spricht. | |
Dem eingeschränkten Betrachtungsfeld der Ermittlungsbehörden wollen das | |
Recherchekollektiv „Forensic Architecture“ aus London und die Aktivisten | |
von „spot the silence“ aus Berlin etwas entgegensetzen: Sie richten den | |
Blick nicht nur auf die ungeklärte Rolle des Verfassungsschutzes, sondern | |
auch auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, die den Nährboden für | |
rassistische Gewalt schaffen, und zeigen, dass die Aufarbeitung weitergehen | |
muss. | |
Betritt man ihre gemeinsame Ausstellung „NSU kontextualisieren – | |
Installationen von Forensic Architecture und spot the silence“ im Münchner | |
Haus der Kunst, findet man sich in einem dunklen, fast bedrückenden Raum | |
wieder. Die Aufmerksamkeit wird sofort auf die Filmprojektion gelenkt, die | |
nahezu eine ganze Wand einnimmt, während eine ruhige Stimme erklärt: „Kurz | |
nach 17 Uhr, am 6. April 2006, wurde Halit Yozgat tot aufgefunden, hinter | |
dem Schreibtisch des von seiner Familie betriebenen Internetcafés in der | |
Holländischen Straße 82 in Kassel.“ | |
Es sind die ersten Worte des Films „77SQM_9:26MIN“ von Forensic | |
Architecture. Raum und Zeit – 9 Minuten und 26 Sekunden in dem 77 | |
Quadratmeter großen Internetcafé – sind die entscheidenden Größen der | |
Untersuchung, in der die ArchitektenInnen und WissenschaftlerInnen den | |
Tathergang des 9. Mordes des NSU mit minutiöser Exaktheit rekonstruieren. | |
Die Rolle von Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen | |
Verfassungsschutzes, steht hier im Mittelpunkt, der sich zur Tatzeit am | |
Tatort befand und der nach eigener Aussage nichts von der Tat sah oder | |
hörte. | |
Im Jahr 2015 wurde ein Polizeivideo publik, in dem Temme seinen Besuch im | |
Internetcafé nachspielt, um zu zeigen, dass er von dem Mord an dem damals | |
21 Jahre alten Halit Yozgat nichts mitbekommen habe. Forensic Architecture | |
stellen den Ablauf sowohl in digitaler als auch physischer Form | |
maßstabsgetreu nach, stützen sich dabei auch auf Zeugenaussagen und | |
Login-Daten der Computer und Telefone. Die zentrale Frage lautet: Könnten | |
Temmes Zeugenaussage und seine Nachstellung der Wahrheit entsprechen? | |
Die Konklusion des Videos ist eindeutig: Temme muss den Schuss gehört, das | |
Schießpulver gerochen und den Körper des Erschossenen hinter dem | |
Schreibtisch gesehen haben. Am Beenden der offiziellen Ermittlungen zu | |
seiner Rolle konnten die Untersuchungen von Forensic Architecture jedoch | |
nichts ändern und bis heute bleibt unklar, ob Temme sich wirklich nur | |
zufällig am Tatort befand. Auf drastische Weise veranschaulicht die | |
detaillierte und exakte Arbeit, wie unzureichend die offiziellen | |
Ermittlungen zum Fall wirklich waren. | |
Im krassen Gegensatz zur totalen Rationalisierung des Videos, in dem der | |
Tod zu einer simplen roten Linie auf dem Bildschirm wird, steht der zweite | |
Teil der Ausstellung. Die Installation „Gespräche // Assemblage“ von spot | |
the silence rückt mit filmischen Interviews persönliche, emotionale | |
Erzählungen in den Vordergrund. | |
„So, wie das Urteil nach fünf Jahren nun ausgefallen ist, ist es eigentlich | |
eine staatliche und gesellschaftliche Legitimation für solche Taten. Der | |
Prozess endet mit applaudierenden Neonazis auf der Tribüne und dem Gefühl | |
der Erleichterung für eventuelle Mittäter. Betroffene fühlen sich nicht | |
ernst genommen, leben weiter in Angst. Man muss die Sache eigentlich selbst | |
in die Hand nehmen, es braucht eine kritische zivilgesellschaftliche | |
Position“, appelliert Rixxa Wendland, Kuratorin des Projekts. | |
Es geht um viel mehr als den NSU, denn erst im gesellschaftlichen und | |
historischen Kontext lassen sich die Terrorakte richtig verstehen. | |
Betroffene erzählen, wie ihnen Anfeindungen alltäglich begegnen und wie | |
tief unterschwellige Vorurteile verankert sind. AktivistInnen kritisieren | |
den institutionellen Rassismus von Behörden, die systematisch die | |
Aufklärung von Straftaten behindern, Opfer zu TäterInnen machen wollen und | |
das Vertrauen in Justiz und Demokratie schwächen. Erinnern sollen wir, | |
fordern und uns solidarisieren. So wie im Fall Oury Jalloh, der in einer | |
Gefängniszelle in Dessau verbrannte und dessen Tod als Selbstmord | |
eingeordnet wurde, obwohl konkrete Hinweise dafür sprechen, dass es sich um | |
Fremdeinwirkung handelte – möglicherweise durch Polizeibeamte. | |
Ein Stichwort, das in den Erzählungen immer wieder zur Sprache kommt, ist | |
Kontinuität: Rassismus war immer Teil unserer Gesellschaft. So auch in den | |
90er Jahren, als die Gewalt in den Angriffen und Anschlägen von Rostock, | |
Solingen und Mölln eskalierte und sich eine gut vernetzte rechtsradikale | |
Szene bildete, in der sich der NSU formieren konnte. | |
Und diese Kontinuität führt bis ins Hier und Jetzt. Übergriffe auf | |
Geflüchtete und Brandanschläge auf Unterkünfte häufen sich, rechte Stimmen | |
bekommen einen festen Platz im medialen Diskurs, für die AfD sitzen nun | |
auch in Bayern und Hessen Abgeordnete im Landtag, die offen rassistische | |
Ansichten vertreten. Nicht nur Antisemitismus, auch Islamophobie ist keine | |
Neuheit in unserer politischen Debatte, zeigt beispielsweise die | |
Historikerin Rebekka Habermas: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es | |
mit dem Ende der Kolonialzeit eine Jahre andauernde Islamdebatte, auf die | |
sich heutige Argumentationslinien zurückführen lassen. | |
Wann lernen wir also endlich aus der Vergangenheit? Die Aufarbeitung der | |
NS-Zeit wird von staatlicher Seite groß geschrieben, es stellt sich jedoch | |
die Frage, wie nachhaltig eine Sensibilisierung der Gesellschaft wirklich | |
gelungen ist und wie tiefgreifend die staatlichen Strukturen selbst | |
miteinbezogen wurden. Bestes Beispiel hierfür ist der | |
Bundesnachrichtendienst, der aus der „Organisation Gehlen“ hervorging, in | |
der lange nach dem Krieg noch eine Vielzahl von ehemaligen SS-, SD- und | |
SA-Mitgliedern beschäftigt war. | |
Die Arbeiten von Forensic Architecture und spot the silence gehören | |
eigentlich nicht ins Museum, sondern auf die politische Bühne. Es ist ein | |
Armutszeugnis für den deutschen Staat, wenn das Museum der bessere | |
Gerichtssaal wird und die Kunst das effektivere Medium der Verteidigung | |
demokratischer Werte. Um sich der Fortsetzung der Gewalt in den Weg zu | |
stellen, muss vor allem eines verhindert werden: das Vergessen. | |
3 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Luise Glum | |
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