# taz.de -- Boxer Graciano Rocchigiani ist gestorben: Der Working Class Hero | |
> Graciano „Rocky“ Rocchigiani ist am Dienstag gestorben. Was ihn populär | |
> machte, hinderte ihn daran, sein riesiges Boxtalent zu entfalten. | |
Bild: Graciano Rocchigiani, 2001 | |
Diese Formulierung fehlt in keinem der Nachrufe: dass Graciano Rocchigiani | |
der Sohn eines sardischen Eisenbiegers war. Gewiss speiste sich der Ruf des | |
Berliner Boxers, ein Working Class Hero zu sein, nicht nur aus dem Beruf | |
seines Vaters, nicht nur aus der Zuwanderergeschichte seiner Familie, nicht | |
nur aus dem für die westdeutsche Arbeiterbewegung mythischen Geburtsort | |
Duisburg-Rheinhausen und nicht nur aus dem, was als Rocchigianis | |
Berufsausbildung galt: abgebrochene Realschule, abgebrochene Lehre als | |
Glas- und Gebäudereiniger. | |
Vor allem war Rocchigiani Berufsboxer, einer der besten der Neunzigerjahre. | |
Auch seine meist lustlos formulierten öffentlichen Wortmeldungen, die dem | |
scheuen Rocchigiani gar nicht lagen, halfen, sein Image zu konstruieren. | |
„Mann am Boden, jutet Jefühl“ war so ein Satz. Oder zum Dauergegner Henry | |
Maske, dessen härtester Antipode er war: „Anpassung, dit Fach hat der Typ | |
doch studiert.“ Oder der berühmte Dialog auf einer Pressekonferenz mit | |
Dariusz Michalczewski, dem dritten der deutschen | |
Weltklassehalbschwergewichtler der Neunzigerjahre. „Es gibt dumme Deutsche | |
und es gibt schlaue Deutsche. Und es gibt schlaue Polen, aber du bist ein | |
dummer Pole! Was du für einen Mist quatschst hier.“ | |
Dass Rocchigiani an diesem Image gearbeitet hätte, kann man kaum sagen. | |
Zumindest nicht mit einem ähnlichen Aufwand, mit dem aus dem früheren | |
DDR-Offizier Henry Maske ein „Gentleman“ entwickelt wurde. Aber ein | |
bisschen hat er schon dran gebastelt. 1996 erschien im unabhängigen | |
Kleinverlag eine Anthologie mit amerikanischen Pulp-Boxgeschichten – | |
Herausgeber: Graciano Rocchigiani. | |
Dazu kommen seine Eskapaden. Dass er seinen Fahrprüfer verprügelt hat, weil | |
er glaubte, beim Führerschein durchgefallen zu sein. Dass er 1987 zusammen | |
mit seinem Bruder Ralf, auch er ein späterer Boxweltmeister, gleich sieben | |
Polizisten k. o. geschlagen hatte. Dass er wiederholt ohne Führerschein, | |
besoffen und mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist. Dass er in Wien | |
einmal einem Hausmeister die Nase gebrochen hat, weil der „meinen Husky | |
beleidigt“ hatte. Auch das machte aus dem Jungen, der in Berlin-Schöneberg | |
aufgewachsen war, bei den Sportfreunden Neukölln das Boxen lernte und der | |
1988 mit 24 Jahren jüngster deutscher Boxweltmeister wurde, zumindest | |
medial einen Rebellen. | |
## Der große Beschiss | |
Aber was ihn populär machte, hinderte ihn daran, sein riesiges Boxtalent zu | |
entfalten. 1989 wurde er – völlig zu Unrecht, wie sich später herausstellte | |
– zu 30 Monaten Freiheitsentzug verurteilt, erst die zweite Instanz stellte | |
seine Unschuld fest. Aber all das warf ihn aus der Bahn. Es folgten | |
Drogenprobleme, Sauferei und völliges Desinteresse an seiner Karriere. | |
Seinen WM-Titel gab er wegen Gewichtsproblemen freiwillig ab. „Boxen ist | |
mir scheißegal“, sagte er. „Was braucht der Mensch außer Glotze gucken, 'n | |
bisschen bumsen, 'n bisschen Anerkennung?“ | |
Da hätte es mit dem großen Talent Rocchigianis schon zu Ende sein können, | |
aber er kam wieder. Boxen wurde durch Axel Schulz, durch Henry Maske und | |
vor allem durch RTL populär in den Neunzigern. Und in Maskes Gewichtsklasse | |
gab es eben auch diesen Rocchigiani. Nicht so ein glatter, von der | |
Amateurschule geprägter Boxern, sondern ein zäher Kämpfer, guter | |
Defensivmann, der auch nach vorne gehen kann, technisch sehr gut. RTL hatte | |
ein Problem. In den USA gegen die dortigen Weltklasseleute wollten sie | |
ihren Henry Maske nicht boxen lassen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass er | |
seinen WM-Titel der International Boxing Federation verloren hätte, wäre zu | |
groß gewesen. Auch gegen Dariusz Michalczewski, den aus Polen stammenden | |
Halbschwergewichtler, wollten sie Maske nicht antreten lassen, denn man | |
ahnte, dass der besser war. | |
Aber Rocchigiani – der war zu berühmt, zu präsent, zu gut, als dass man ihn | |
nicht an den „Weltmeister Maske“ hätte heranlassen können. Zumal das | |
Berufsboxen ja die große Erzählung der Wiedervereinigung lieferte. „Wenn | |
ick Leute auf der Straße reden höre“, sagte Rocchigiani vor dem Kampf, | |
„heißt es entweder: ‚Hau dem Wessi auf die Schnauze‘ oder ‚Hau dem Oss… | |
die Schnauze‘.“ Maske wollte souverän wirken: „Diese Problematik sehe ich | |
nicht so“, sagte er und fing sich Rocchigianis Konter: „Det Volk sieht det | |
so, det is nun mal so.“ | |
„Eine Frage der Ehre“ nannte RTL die Kämpfe, über 19 Millionen Zuschauer | |
schalteten ein, und es kam in Dortmund zum ersten Duell. Zumindest seine | |
Fans überzeugte Rocchigiani, zweimal setzte er Wirkungstreffer gegen Maske, | |
einmal hatte er ihn gar am Boden – doch der RTL-Liebling gewann nach | |
Punkten. Betrug witterte Rocchigiani. | |
Ein Jahr später trat Rocchigiani in Hamburg gegen Dariusz Michalczewski an: | |
Wegen Schlagens nach Kampfunterbrechung wurde er disqualifiziert – wobei | |
Michalczewski auf nicht gerade sportliche Weise den unfair Getroffenen | |
mimte. Betrug, hieß es wieder einmal bei Rocchigiani. | |
Den dritten großen Beschiss erlitt er 1998, als er in Berlin gegen Michael | |
Nunn Weltmeister des Verbandes WBC wurde. Doch die WBC nannte ihn nur | |
„Interimsweltmeister“, weil der damalige Superstar Roy Jones Jr. als | |
Titelträger bessere Vermarktungschancen bot. Rocchigiani klagte, bekam | |
Titel und 31 Millionen Dollar zugesprochen, aber der Verband ging lieber | |
bankrott, als das Geld zu zahlen. Später bekam Rocchigiani immerhin 4,5 | |
Millionen Dollar als Vergleich. | |
2003 war die Karriere vorbei, Gerüchte über ein Comeback gab es sogar noch | |
in diesem Jahr, 2018, aber sie waren nicht ernst zu nehmen. Zuletzt hatte | |
sich Rocchigiani wieder gut gefangen. In Berlin betrieb er ein Box-Gym. | |
Schon vor elf Jahren hatte er seine Autobiografie geschrieben. Auf Sport1 | |
betreute er die Boxtalentshow „The Next Rocky“. Er machte bei Musikvideos | |
und Kurzfilmen mit, trat als TV-Experte bei Kämpfen auf, und Interviews, | |
wie man ihn in den Neunzigern verschaukelt hatte, gab er auch gerne. | |
54 Jahre alt ist Graciano Rocchigiani geworden. Am Dienstag wurde er in | |
Italien von einem Auto angefahren und starb an den Folgen der Verletzungen. | |
3 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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