# taz.de -- Wirtschaftskrise in der Türkei: Am liebsten Hackfleisch | |
> Staatspräsident Erdoğan versichert beharrlich, dass es keine | |
> Wirtschaftskrise gibt. Doch die Menschen leiden. Der Metzger von Maltepe | |
> kann ein Lied davon singen. | |
Bild: Muharrem Culha wartet auf Kund*innen | |
Blumentöpfe und Fotos mit Gulasch und Steak dekorieren die Wände, daneben | |
hängt die Preistafel. Seit dreißig Jahren arbeitet Muharrem Culha, 44, in | |
der kleinen weißgekachelten Metzgerei in Maltepe, einem der ältesten | |
Viertel auf der asiatischen Seite von Istanbul. Hin und wieder kommen an | |
diesem Tag Kund*innen, die meisten verlangen Huhn und Hackfleisch. | |
Culha fing in jungen Jahren bei seinem Vater in der Metzgerei an, dann | |
übernahm er sie und machte sie zu einer der beliebtesten Metzgereien im | |
Viertel. Als jüngst die Devisenkurse durch die Decke gingen, brach sein | |
Geschäft ein. „Herrscht derzeit eine Krise?“ Die Frage verblüfft ihn. „… | |
jetzt, gibt es etwa keine Krise?“ | |
Wirtschaftskrisen treffen die kleinen Leute zuerst, etwa die Menschen in | |
Maltepe. Und sie treffen die kleinen Handwerker, zum Beispiel den Metzger | |
im Ort. In seinem Laden ist jene Krise, die Präsident Recep Erdoğan heftig | |
abstreitet, wie unter einem Mikroskop zu beobachten. | |
Culha verkauft vor allem heimisches Fleisch: An den Wänden seines Geschäfts | |
hängen Zertifikate regionaler Produktion. Sie stammt aus der Gegend | |
Balıkesir in der Westtürkei. Er kauft zum Beispiel für 35 Lira (ca. fünf | |
Euro) pro Kilo Kalbsfleisch vom Schlachthof ein. Das ist viel mehr als | |
früher. Aber auch die Bauern müssen leben, Futter, Düngemittel und | |
Treibstoff sind teurer geworden. | |
## Culha verkauft nur noch zwei Kälber pro Woche | |
Denn mit dem Anstieg der Devisenkurse müssen die Türk*innen für | |
ausländische Produkte mehr bezahlen, etwa für Importfutter. In den letzten | |
sechs Monaten verteuerten sich die Preise von rund sieben auf zwölf Euro | |
pro Kilo. Entsprechend stiegen die Fleischpreise. Und Culhas Absatz brach | |
um die Hälfte ein. Vor zwei Jahren habe er pro Woche vier Kälber gekauft, | |
heute nur noch zwei, sagt er. | |
Statt hundert Kund*innen am Tag kommen nun nur noch fünfzig in seine | |
Metzgerei. Und die schauen genau auf die Preise, die Culha immer wieder neu | |
an die Tafel schreibt – Tendenz nach oben. Wer früher ein Kilo Gulasch | |
erwarb, kauft heute noch ein halbes oder auch nur 400 Gramm. Filet kostet | |
zwölf Euro, Kotelett elf und Gehacktes rund sieben Euro pro Kilo. „Am | |
liebsten kaufen die Leute Hackfleisch“, sagt Culha. Er verkaufe inzwischen | |
nicht mehr als vier Filets in der Woche, vor einem Jahr waren es noch acht. | |
Jeder Türke und jede Türkin hatte 2017 rund 257 Euro im Monat zum Ausgeben. | |
Culha muss nun sparen, was nicht immer möglich ist. Die Kühlaggregate zum | |
Beispiel müssen ununterbrochen brummen. Vor einem Monat bezahlte er für | |
Strom noch fast 86 Euro, in diesem Monat waren es 150. Also dürfen seine | |
beiden Kinder nicht mehr mit dem Schulbus zur Schule fahren, der kostete | |
rund 28,50 Euro im Monat. Nun müssen sie den öffentlichen Bus nehmen. | |
Eines der größten Probleme für den Metzger von Maltepe ist die staatliche | |
Anstalt für Fleisch und Milch. Denn die wirft billig Importfleisch auf den | |
Markt, um die Leute bei Laune zu halten – und er bleibt auf seinem Fleisch | |
sitzen. | |
## Fleisch vom Opferfest | |
Und dann brach auch noch eine Seuche aus. Die Behörden mussten eine Anlage | |
im Ankaraner Landkreis Gölbaşı, wohin ein Teil von 6.968 Stück Schlachtvieh | |
aus Brasilien und Irland verfrachtet worden war, am 27. August wegen | |
Milzbrandes schließen. Anfang September meldeten sich im Bezirk Silivri von | |
Istanbul 48 Personen mit Verdacht auf Milzbrand in Kliniken. | |
Deshalb kauften die Leute derzeit lieber weißes Fleisch, sagt Metzger | |
Culha. Der Preis für Hühnerfleisch stieg in letzter Zeit um rund 20 | |
Prozent. | |
Erdem Yılmaz kommt herein. Er ist Mitte siebzig und will sein vom Opferfest | |
übrig gebliebenes Fleisch schneiden lassen. „Diesmal bitte Gulasch“, sagt | |
der alte Mann. Er studiert die Preisschilder, kaufen will er aber nichts. | |
Früher, sagt er, hätten sie in der Familie alle zwei Tage Fleisch gegessen, | |
jetzt kommt es nur noch höchstens einmal in der Woche auf den Tisch. „Ich | |
bin Rentner. Ich kümmere mich um zwei Enkelkinder. Das Leben ist schwer. | |
Ich lebe in einer eigenen Wohnung, aber ich komme trotzdem nicht über die | |
Runden.“ | |
Metzger Culha zerhackt das Fleischstück. Er verlangt dafür rund 40 Cent pro | |
Kilo. Viele Menschen bringen in diesen schweren Zeiten ihre Opfergaben – | |
und anstatt, wie die religiöse Tradition eigentlich verlangt, einen großen | |
Teil davon den Armen und Nachbarn zu spenden, essen sie das ganze Fleisch | |
selbst. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
Das neue Journal: Dieser Artikel ist im zweiten gazete-Journal erschienen. | |
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11 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Pelin Ünker | |
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