# taz.de -- Mit präziser Wut | |
> Erst kein Geld für die Baugruppe und dann auch noch das Recht, zu reden, | |
> einfordern: „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling ist viel mehr als | |
> ein Szeneroman aus der Neobürgerlichkeit | |
Bild: In Berlin wird viel gebaut – aber so, dass sich viele Wohnen nicht leis… | |
Von Susanne Messmer | |
Resi also. Resi heißt die Ich-Erzählerin in Anke Stellings neuem Roman, | |
„Schäfchen im Trockenen“. | |
Zuerst denke ich an Therese, die Therese von Arthur Schnitzler. An eine | |
alleinstehende Mutter im Wien der Jahrhundertwende also, die mit ihrer | |
brutalen gesellschaftlichen Degradierung klarkommen muss und einen langen | |
inneren Monolog darüber führt. Wie Therese befindet sich auch Resi auf dem | |
absteigenden Ast. Die Gründe allerdings sind – wie immer bei Anke Stelling | |
– absolut zeitgemäß. | |
Alles fängt damit an, dass Resi die Kündigung ihrer Altbauwohnung in den | |
Händen hält. Der Mann einer Schulfreundin hatte ihr die Wohnung zur | |
Untermiete überlassen, als er in die Baugruppe zog. So wie die anderen | |
Schulfreunde auch. Resi war die Einzige in der Clique, die für eine | |
Baugruppe nie das nötige Geld hätte aufbringen können. | |
Nun kann sich Resi die aktuellen Berliner Innenstadtmieten natürlich | |
ebenfalls nicht mehr leisten, ihr droht die Verdrängung nach Marzahn, in | |
jene Plattenbausiedlung am östlichen Rand Berlins, die als Problemzone | |
gilt. | |
Resi ist eine tolle Romanfigur, noch toller sogar als ihre Vorgängerin | |
Sandra in dem Buch „Bodentiefe Fenster“, jenem fünften Roman Anke | |
Stellings, von dem sie 2015 sagte, dass sie sich erst mit ihm hatte | |
freischwimmen können. Viele entdeckten damals Anke Stelling zum ersten Mal. | |
Das Thema: ebenfalls eine Baugruppe im Ex-Szeneviertel Prenzlauer Berg, in | |
der ein absurdes Hauen und Stechen herrscht, ein Sichbelauern und | |
Sichvergleichen der „Richtigmacher und Rezeptverteiler“, sodass man | |
gleichzeitig lachen und frieren musste beim Lesen. | |
Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen dem alten und dem | |
neuen Roman: Während Sandra aus den „Bodentiefen Fenstern“ anfangs noch | |
mitmacht bei der Baugruppe, nimmt Resi aus „Schäfchen im Trockenen“ | |
konsequenter die Rolle der Spielverderberin ein. Sie zieht nicht ein mit | |
den besser verdienenden Freunden. Sie lehnt sogar das Angebot des reichsten | |
von ihnen ab, ihr das fehlende Eigenkapital zu borgen. Und das, obwohl sie | |
zu kämpfen hat: Sie ist leidlich erfolgreiche Schriftstellerin, ihr Mann | |
Künstler, sie haben vier Kinder und werden nicht erben. | |
„Wo man wohnt, bedeutet so viel“, sagt Anke Stelling bei meinem Besuch in | |
einer Altbauwohnung in Prenzlauer Berg, in der sie tagsüber arbeitet. | |
„Wahrscheinlich hat das viel mit Tarnung zu tun, damit, dass man eigentlich | |
blufft“, ergänzt sie. | |
Die 1971 geborene Autorin hat selbst drei Kinder und wohnt in einer Art | |
Baugruppe um die Ecke. Deshalb wurde oft von ihren Erzählungen auf ihre | |
Person geschlossen. Neuerdings trägt Anke Stelling die Haare kurz, man | |
sieht ihr jetzt sehr direkt ins Gesicht. | |
Wir unterhalten uns darüber, warum Resi gar keine moderne Therese ist, | |
warum sie eher die Parrhesia im Namen trägt, den Mut zur Wahrheit. Darüber, | |
was Redefreiheit heute bedeutet. Und dass nur jener Kritiker Parrhesia | |
spricht, der sozial schlechtergestellt ist als der, den er kritisiert – das | |
erste Mal, sagt Stelling, sei ihr Parrhesia beim Lesen von Foucault | |
begegnet. | |
Ganz am Anfang von „Schäfchen im Trockenen“ wird eine Passantin | |
beschrieben, die ganz ungeniert an einen Fahrstuhl pinkelt. Erst ganz am | |
Ende wird das Bild aufgelöst: Resi hat einen Preis für ihre Literatur | |
bekommen, sie muss zu einer Veranstaltung in einem Literaturhaus mit | |
anschließendem Mittagessen. | |
Irgendwann sagt der Verleger zu Resi: „Resi, du bist schlau, aber du musst | |
auch mal loslassen.“ Und Resi erwidert, sich an jene Frau erinnernd: „Okay, | |
ich probier’s. Wir gehen jetzt raus und pinkeln da hin.“ Und dann denkt sie | |
über den nach, auf den sich das alles bezieht: über Diogenes, den | |
Philosophen in der Tonne, der keine Scham kannte. Diogenes machte sich von | |
überflüssigen Bedürfnissen und äußeren Zwängen völlig frei. Dafür nahm … | |
sich das Recht, zu reden. | |
Die schwere Frage, die Resi so umtreibt, dass ich beim Lesen manchmal nicht | |
mehr wusste, ob man sie eigentlich noch sympathisch findet oder nur noch | |
total nervig, ist die: Wie kann Mensch es schaffen, gleichzeitig unabhängig | |
zu sein und eingebunden, beziehungslos und involviert? „Dies ist ein | |
Problem, für das es keine Lösung gibt“, sagt Anke Stelling mit einem | |
charmanten Lächeln. | |
Im Juni dieses Jahres hat Anke Stelling auf einer Tagung zum Thema | |
„Literatur in der neuen Klassengesellschaft“ in Dortmund gesprochen. Sie | |
sagte, dass man „durch Schreiben zum Subjekt wird, vielleicht sogar zur | |
Protagonistin der eigenen Geschichte“. Sie sagte, dass sie auf Widerstände | |
trifft, wenn sie „ich“ sagt, und deshalb von diesen Widerständen erzählt. | |
„Schäfchen im Trockenen“ ist viel mehr als Problem- oder Frauenliteratur, | |
es ist ein Buch, das nicht nur für Mütter aus Prenzlauer Berg geschrieben | |
wurde, die von der Gentrifizierung eingeholt wurden. | |
Das, was Anke Stelling in ihrem Roman härter herausschält denn je, ist die | |
Beschreibung unserer Klassengesellschaft. Es geht um den Versuch einer | |
Frau, Klassenbewusstsein zu entwickeln in einem Land, in dem es, anders als | |
zum Beispiel in Frankreich, eher als uncool gilt, über diese gute alte | |
Frage nachzudenken. | |
Resi ist ein Kind der 68er-Generation, ihre Mutter war Buchhändlerin, | |
kleinbürgerlich, aber gebildet, und Resi leidet unter ihrem Auftrag, ein | |
selbstverwirklichtes und freies Leben zu führen, denn nichts ist so wählbar | |
und beliebig, wie man ihr weismachen wollte. Die Klassengesellschaft hat | |
sich zu keinem Zeitpunkt in schicke Lebensstile und subkulturelle | |
Unterschiede aufgelöst. Statt dessen werden die Reichen immer noch reicher, | |
die Armen ärmer und Bildungschancen werden vererbt. | |
Die, mit denen Resi aufgewachsen ist und die einen ganz anderen Hintergrund | |
hatten, tun zwar noch immer so, als seien sie alle gleich, sägen sie aber | |
kaltschnäuzig ab, als sie aufdeckt, dass sie es nie waren. | |
Leute sind das, die gern mal Sprüche klopfen wie „weiß man doch“ oder | |
„selber schuld“. Oder die Resi als Mutter von vier Kindern fragen: „Wie | |
schafft ihr das?“, womit sie allerdings, wie Stelling schreibt, eher | |
meinen: „Wie kann man nur so dumm sein, es überhaupt zu versuchen?“ | |
Mit präziser Wut schreibt Anke Stelling über die tiefen Gräben in unserer | |
Gesellschaft und darüber, dass immer weniger Menschen darüber entscheiden, | |
wer zu Wort kommt und wer nicht. | |
9 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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