# taz.de -- die steile these: EineGesellschaft,dienicht„Gesundheit!“sagt,ve… | |
Von Sara Tomšić | |
Neulich in der U-Bahn. Da ist eine Frau mit einem roten Schal. Ihre | |
Nasenlöcher weiten sich, ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Sie holt | |
Luft, so viel Luft, als atme sie auf Reserve. WO SIND IHRE HÄNDE? Ich höre | |
das „Haaa…“. Oh, bitte, bitte, Hand vor den Mund. Sie steht direkt vor mi… | |
sie ist einen Kopf größer, meine Stirn direkt in ihrer Niesschneise, es ist | |
voll, ich habe keine Chance, mich wegzuducken. Jemand greift an mir vorbei, | |
ein Handgelenk streift mein Kinn. Die Ellenbogenspitze meines Nachbarn | |
steckt zwischen meiner sechsten und siebten Rippe. „…tschiiiiiii“, ihre | |
Hand gerade noch vor dem Mund. Ihr Körper erleichtert, ihr Gesicht auch. | |
Mein Kopf denkt „Gesundheit“, mein Mund sagt: nichts. Sagt es ein anderer? | |
Die Frau zieht die Schultern hoch und versteckt sich in ihrem riesigen | |
roten Schal. Der Mann mit dem Ellenbogen neben mir schaut genervt von | |
seinem Handy auf. Geht’s noch lauter?, fragen seine hochgezogenen | |
Augenbrauen. Ich zögere immer noch, zögere und zögere mich am Moment | |
vorbei. „Nach fünf Sekunden ist es komisch, wenn ich jetzt noch …“, denkt | |
mein Kopf, mein Mund versucht ein Lächeln. Die Nieserin sieht es leider | |
nicht mehr, sie wurschtelt sich aus dem Menschenklumpen heraus zur Tür. | |
Keiner hat es gesagt. Ich habe es nicht gesagt. Drei Silben. Ein Wort. | |
„Gesundheit.“ Eigentlich ganz einfach. Ich schäme mich. Denn ein Niesen und | |
das, was danach passiert, ist der Indikator dafür, wie es um die Empathie | |
in einer Gesellschaft bestellt ist. | |
Warum war ich so zögerlich? Wenn die beste Freundin niest, ist ein | |
„Gesundheit“ doch auch ganz einfach. Es scheint mit dem Kontext zu tun zu | |
haben. Mit der ungeschriebenen Regel, im öffentlichen Raum so wenig | |
Aufsehen wie möglich zu erzeugen. Jeder bleibt für sich. Gespräche beginnen | |
nur Kinder, Verrückte oder Alkoholisierte. Also besser keine Geräusche | |
machen. Und darum auch nicht „Gesundheit“ sagen. Wir bleiben unsichtbar, | |
wir bleiben bei uns. Und das ist fatal. | |
Es gibt sogar eine Regel, die beim Niesen Stille anstatt Worte vorsieht. Im | |
Knigge steht: „Muss man selbst, oder aber eine andere Person in einem Raum | |
niesen, ignoriert man dies als einen unerheblichen Zwischenfall. Dieser | |
sollte nicht durch ein ‚Gesundheit!‘ zu einem Drama gesundheitlichen | |
Verfalls verfremdet werden.“ Mit der Antwort dramatisiere man das Niesen | |
also zu einem gesundheitlichen Zerfall des Gegenübers. | |
Das ist Bullshit. Denn „Gesundheit“ meint nicht zwingend den Wunsch zur | |
Genesung – es kann ja auch einfach nur in der Nase gekitzelt haben. Niesen | |
ist vor allem eines: eine nichtwillentliche Form der Lebensäußerung. Noch | |
dazu eine sehr laute, explosionsartige. Indem jemand niest, macht er sich | |
bemerkbar – ob er will oder nicht. Das Niesen ist also eine Urform der | |
Kommunikation. | |
Doch wenn jemand niest, schaltet sich oft das Kopfkino ein: gelber Rotz an | |
den Händen, vergilbte Taschentücher in Hosentaschen, Schleim an der Jeans. | |
Ekel. Es ist eine Urangst vor Bakterien, die uns da überfällt. | |
Anstatt uns zu ekeln, sollten wir lieber bei dem bleiben, was wirklich ist. | |
Hier hat ein Mensch für einen kurzen Augenblick die Kontrolle verloren. Er | |
hat sich bemerkbar gemacht, vielleicht ist es ihm peinlich. Niesen ist | |
Kontrollverlust, und Kontrollverlust ist Schwäche. | |
Darum ist auch die folgende Regel des Knigge ebenfalls völlig unangebracht: | |
„Ein kurzes ‚Entschuldigung‘ ist durchaus angebracht, denn nicht selten | |
zuckt der Eine oder Andere durch das laute ‚Hatschi‘ erschrocken zusammen.�… | |
Und wieder: Bullshit. Eine ungewollte Äußerung ist genau das – ungewollt. | |
Wieso sollte sich der Nieser für ein Lebenszeichen entschuldigen, das sein | |
Körper ihm unwillentlich abverlangt hat? So eine überzogene Höflichkeit | |
entfremdet: den Nieser von der Welt und die Menschen vom Nieser. Was wird | |
aus einer Gesellschaft, die sich in solchen Momenten für Regeln und gegen | |
einen menschlichen Umgang miteinander entscheidet? | |
Wer jetzt denkt: Ach, „Gesundheit“, Knigge hin oder her, der werfe einen | |
Blick in die Zeitung von heute. Oder von gestern, vorgestern, | |
vorvorgestern. Seehofer, Maaßen, Weidel. Die Debatten über Obergrenzen, | |
Seenotrettung, Chemnitz. Diese Themen haben alle eines gemeinsam – es | |
mangelt an Empathie. In Diskussionen, im Umgang miteinander, im Blick auf | |
die Welt. | |
Empathie kann man lernen, man muss es im Kleinen üben. Wer fremden Menschen | |
„Gesundheit“ wünscht, macht sich stark für Menschlichkeit. Er entscheidet | |
sich für das „wir“ und gegen das „die“. Er lässt sich nicht von | |
irrationalen Ängsten zu Abgrenzung verleiten. Er lernt, im Fremden sich | |
selbst zu sehen. Denn jeder von uns könnte dieser Fremde sein, der Schwäche | |
zeigt, der Schutz sucht, der niesen muss. | |
Schweigen wir nach dem Nieser in der Bahn, zeichnen wir eine unsichtbare | |
Linie. Eine Kluft, die den niesenden Menschen von den restlichen | |
Passagieren trennt. Mit einem „Gesundheit“ übertreten wir diese Linie. Wir | |
lassen den anderen nicht alleine, wir stellen uns auf seine Seite. Jeder, | |
der seinem niesenden fremden Gegenüber schon mal ein „Gesundheit“ entgegnet | |
hat, kennt das Lächeln und das Leuchten in seinen Augen. Es ist eine kleine | |
Rettung aus der Not. | |
Wir sollten uns also gegen den Knigge und für die Empathie entscheiden. Die | |
Reaktion auf ein Niesen muss vom Gegenüber kommen. „Gesundheit“ ist die | |
Verbrüderung gegen die Scham, die Stille in der Bahn unterbrochen zu haben. | |
„Gesundheit“ ist ein empathisches „Ich sehe dich“. Unsere österreichis… | |
Nachbarn machen es noch kreativer: Die Entgegnung auf ein Niesen ist dort | |
das Wort „Hatschi“. Also eine fast schon liebevolle Verbrüderung durch | |
Nachahmung. | |
Ein Wort. Wenn wir nicht mal mehr das schaffen, was soll dann aus uns | |
werden? | |
29 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Sara Tomsic | |
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