# taz.de -- Die sinnentleerte Mitte | |
> In Berlin fehlt die DNA der Altstadt, auch wenn viele sie im Schloss | |
> sehen wollen. Was Krieg und DDRhaben stehen lassen, sind bauliche | |
> Spurenelemente als Zeugen des Verlusts. Ein Blick zurück | |
Bild: Sinnentleerte Mitte mal anders. Das Reichstagsgebäude als hohler Zahn. F… | |
„Mitte“ klingt in Berlin wie ein Versprechen: Man fährt nach „Mitte“, … | |
sich zu amüsieren, Bars und Restaurants aufzusuchen; Erlebnisgastronomie, | |
Kultur zu „erleben“; wie ja heute alles und jeder Ort darauf ausgerichtet | |
ist, etwas zu erleben. Erleben klingt immer ein wenig so wie erarbeiten, | |
erschaffen; man tut etwas, für sich selbst und für das, was man urbanes | |
Leben nennt. Man beteiligt sich direkt und indirekt – als Flaneur, | |
Konsument, Zuschauer oder Akteur – an dem, was unsere Erlebniskultur | |
fordert: einen kulturellen Mehrwert schaffen. | |
„Mitte“ bedeutet aber auch Nukleus; also Kern von etwas. Mitte heißt | |
woanders schon mal „Altstadt“ oder City. Damit ist etwas verbunden: eine | |
Art genetischer Kern der Stadt, ein Ort, eine aus Bau und Raum | |
zusammengesetzte Topografie, welche die jeweils wechselnde Geschichte der | |
Städte absorbiert und weitergegeben hat, von der die Impulse zum Wachstum, | |
zur Entwicklung – räumlich, ökonomisch, kulturell, geistig, intellektuell �… | |
ausgingen. In der Regel sind diese Orte Schrittmacher und Motor für das | |
Gefüge Stadt, sie sind darüber hinaus identitätsstiftend, weil bild– und | |
erinnerungsträchtig, aufgeladen mit Geschichte(n), mit Mythen, mit | |
Anekdoten. | |
Beim Stichwort „bildträchtig“ fängt das Dilemma an; das unserer Zeit in | |
unserer Stadt. In Berlin. – Zunächst bewegt man sich – nicht nur in „Mit… | |
– in „Straßen“ oder „Plätze“ genannten Räumen der Stadt; die Stra�… | |
quasi die Korridore, in oder auf denen man sich bewegt. Plätze wiederum | |
fungieren als Entschleuniger, sie bremsen die Motorik des linear Gehenden | |
und meist Fahrenden; das transitorische Moment der Straßen wird hier | |
räumlich gleichsam infrage gestellt. Der Blick richtet sich nicht mehr auf | |
den Fluchtpunkt am Ende des Korridors Straße, sondern wird abgelenkt in | |
links oder rechts sich aufweitende Raumkompartimente, eben Plätze genannt. | |
Ihnen ist das Moment des Verweilens baulich-räumlich eingeschrieben. Genau | |
dies geschieht in Altstädten. | |
Frankfurt zum Beispiel „eröffnet“ gerade seine „neue Altstadt“. Schon … | |
klingt bedrohlich, man zuckt förmlich zusammen: „Frankfurt hat sich eine | |
neue Altstadt gebaut, am nächsten Wochenende wird sie offiziell eröffnet.“ | |
Dies die Überschrift über einem Bericht dieser Tage, der den Lesern die | |
„Idee Altstadt“ für Frankfurt zu erläutern sucht. „Eine Altstadt eröff… | |
Also doch wieder „Erlebnis“. Event. Ausstellung. Festival. Wettkampf. Das | |
Bild Altstadt wird wortreich gelüftet, Sehnsuchtsbilder werden | |
werbetextbegleitend entschleiert, Geister beschworen. | |
Das dazugeschaltete Bild des Textes ist bezeichnend: Im Hintergrund | |
Frankfurts hochhausbewehrte downtown, zu ihren Füßen das Glücksversprechen | |
aus spitzgiebligen Dächern, Gauben, Fassaden mit verrahmten | |
Fensteröffnungen, Sprossen, Kranzgesimsen und Profilen. Gassen und | |
Gassenaufweitungen (Plätzchen) werden gesäumt von analog zum verschwundenen | |
Bestand errichteten Fassaden. Hoher Niedlichkeitskoeffizient garantiert. | |
Eine Altstadt wie ein Modell ihrer selbst: begehbar, anfassbar, | |
antiseptisch, laktose- und keimfrei, bestaunbar. Frankfurts durch Krieg, | |
Nachkriegszerstörungen und Architekten vollständig vernichteter genetischer | |
Kern: hier wird er simuliert. | |
Mein Verhältnis dazu ist ambivalent: Ich mag mich nicht auf die Seite der | |
Kritiker schlagen, die gebetsmühlenartig einer mutwilligen Moderne das Wort | |
reden – aber auch nicht auf die der bedingungslosen Befürworter, die keinen | |
anderen Weg als diese Operation erkennen und in der neuen Altstadt die | |
altneue DNA der Stadt – eine Mischung aus Trostversprechen, verschorfter | |
Tradition und getrockneter Schönheit – aktivieren wollen. | |
In Berlin fehlt diese Altstadt-DNA ebenso (auch wenn viele sie im Schloss | |
sehen wollen); was Krieg und Nachkriegsplanungen der DDR haben stehen | |
lassen, sind bauliche Spurenelemente als Zeugen des Verlusts; „bauliche“, | |
eben weil „räumliche“, geschweige denn „baulich-räumliche“ unter Stra… | |
und Verkehrsschneisen verschwunden sind, begraben. Ernst Jünger schrieb | |
einst: „Unsre Städte sind stärker von Architekten als von Bomben ruiniert. | |
Die Bombe zerstört schlimmsten Falles bis zum Grunde, der Architekt von | |
Grund auf.“ Dieser Befund ist in der „Mitte“ Berlins noch immer spürbar. | |
Die die Stadt einstmals generierende Parzellenlogik mit Einzeleigentümern | |
und -Bauherren – der entscheidende Teil der DNA – ist großflächig überba… | |
und zerstört. Die die Straßen begleitenden „Fassaden“ genannten | |
Raumeinfassungen, quasi die Innenwände des der Öffentlichkeit | |
überantworteten Raumes, folgen in ihrer monotaktischen Reihenlogik entweder | |
den Grundrissen der Gebäude, dem Büroraster, oder den traumatischen, in | |
ihrer Jugend erfahrenen Schlüssellocherlebnissen der Architekten. Zu den | |
Rändern der Stadt hin sieht es im Prinzip nicht anders aus. Wo | |
großflächiger gebaut wird, fehlt die nachvollziehbare baulich-räumliche | |
Logik, die die Städte weltweit bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt | |
hat: Jede Stadt zwar ihrem eigenen genetischen Kern folgend, aber doch | |
grundiert mit der verbindenden Idee der Folge Haus – Straße – Block – | |
Platz. Das Urgen einer jeden Stadt. | |
Das Haus selbst als kleinster Baustein. Mit einer Physiognomie (Fassade), | |
die so wenig Eitelkeit und Stilisierung wie möglich, dafür aber umso mehr | |
Neutralität, als verantwortliche Geste allen Stadtbewohnern gegenüber, zur | |
Schau trug. Das Individuelle war in der Regel „nur“ eine Variation im | |
Lineament; das Ergebnis: Vielfalt in der Einheit. Dieses „nur“ ist mithin | |
das Mehr, nennen wir es den ästhetischen Mehrwert. Das hat viele Städte | |
dort, wo wir uns heute in ihnen bewegen, schön gemacht. Schön gewöhnlich, | |
schön alltäglich, so schön normal. Zum Beispiel Berliner Mietshausquartiere | |
aus dem 19. Jahrhundert. Und wer wollte nicht, dass unsere Städte schön | |
sind – neben dem Umstand, dass wir uns es leisten können sollten, in ihnen | |
zu leben, heißt, die Miete aufbringen zu können. | |
Warum diese Ausführungen an dieser Stelle? Heute? In einer Zeit, in der der | |
Ruf nach der verlorenen Berliner Altstadt lauter wird? In den zwei Jahren, | |
in denen ich, gleich zu Beginn der 90er Jahre, das Vergnügen hatte, für die | |
neu geschaffenen Berlinkultur-Seiten der taz als Redakteur | |
mitverantwortlich zu zeichnen, habe ich, zuständig für Stadtkritik und | |
Architektur (das hat die taz seinerzeit gezielt gewollt und sich geleistet, | |
heroisch, oder?), genau diese Diskussion, analog zu den Diskussionen und | |
Grabenkämpfen der Planer, Architekten und Bürokratievertreter aus Ost und | |
West, begleitet, kommentiert, abzubilden versucht in Text und Bild. | |
Die Aufgaben für die Stadt nach dem Fall der Mauer waren enorm, sie waren | |
neu, sie waren der Zündstoff für die Frage: „Welche Stadt wollen wir?“ Bei | |
der Diskussion um die Stadtentwicklung, mit dem Fokus auf die Architektur, | |
habe ich auch versucht, die Themen darauf zu fokussieren, was materiell, | |
was baulich bleibt, wenn alle Ideologien verschwunden und alle Traumata der | |
Planer erledigt sind. Es ging in der Debatte um die Naht- respektive | |
Grenzstellen, die plötzlich aufgerissenen und schrecklich öden Wüsten | |
zwischen Ostberlin und Westberlin; es ging um die großen Wettbewerbe, um | |
die Vorstädte, um die Domestizierung der Interessen von Developern und | |
Immobilienhaien, um den Versuch, den enormen Druck seitens der Behörden zu | |
lenken und zu moderieren. | |
Meinerseits habe ich hier und da versucht, den genetischen Kern der Stadt | |
Berlin zu benennen: die Struktur von Block – Straße – Haus und das Berliner | |
Mietshaus als Typus – und die aus beiden resultierende spezifische Dichte. | |
Und die spezielle Schönheit des Alltäglichen, die aus ihnen erwächst. | |
Was meines Erachtens heute Not tut? Jenseits der pragmatischen | |
Notwendigkeiten und Aufgaben bezahlbare Wohnungen zu bauen, müssen wir auch | |
darüber, nachdrücklich und vermehrt, sprechen: über die Schönheit der | |
Stadt. Denn hässliche Städte machen krank. | |
Martin Kieren war 1990/91 Redakteur der Berlinkultur-Seite. Heute lehrt er | |
Architekturgeschichte an der Beuth-Hochschule Berlin | |
27 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Kieren | |
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