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# taz.de -- Türkei kämpft gegen den Terrorismus: Ist dieser Mann ein Terroris…
> Ein 70-jähriger Bauer wird über Nacht zum gefährlichen Top-Terroristen
> erklärt. Seine Familie versucht per twitter, seinen Ruf zu retten.
Bild: „Hätte ich gewusst, dass es 300.000 Lira für ihn gibt, hätte ich ihn…
Letzte Woche fuhr ich in mein Dorf. Es liegt im Kreis Yüksekova in der
Provinz Hakkâri im äußersten Süpdosten des Landes. Ich wollte meine Tante
Rekya besuchen. Sie hat Krebs. In ihrem kleinen Vorgarten jätete ihr
70-jähriger Ehemann Nurettin Canan gerade Unkraut. Hätte mir zu diesem
Zeitpunkt jemand gesagt, dass Nurettins Name ein paar Tage darauf in aller
Munde sein würde, hätte ich wie alle anderen hier im Dorf laut gelacht.
Am Abend des 6. September meldete die staatliche Nachrichtenagentur
Anadolu: „Der PKK-Terrorverdächtige Nurettin Canan, der auf der grauen
Fahndungsliste steht und für dessen Ergreifung 300.000 Lira ausgesetzt
waren, wurde bei einer gemeinsamen Operation der Anti-Terror-Einheit der
Polizei Hakkâri und des örtlichen Geheimdiensts vor seinem Haus im
Dorffestgenommen.“
Wir erfuhren, dass es sich bei dem „gefährlichen Terroristen“, auf dessen
Kopf 300.000 Lira ausgesetzt waren, um den alten Bauern Onkel Nuri, wie man
ihn hier im Dorf nennt, handelte. Nuri, der seit 70 Jahren in unserem Dorf
lebt und längst Enkel hat. Und uns wurde einmal mehr klar, dass mit der
Realität der „neuen Türkei“ nicht zu spaßen ist. „Hätte ich gewusst, …
es 300.000 Lira Belohnung für ihn gibt, hätte ich ihn selbst angezeigt und
das Geld eingesteckt“, hätte Tante Rekya gescherzt. Nicht sehr witzig.
## Spiel den Janitscharenmarsch!
Nach der „Meldung“ der Nachrichtenagentur Anadolu war Nurettin Canans Name
überall in den Fernsehnachrichten und in den Internetportalen zu lesen.
„Terrorist der grauen Kategorie lebend geschnappt!“ Die AKP-Trolle feierten
im Internet den Erfolg. „Spiel den Janitscharenmarsch!“, forderten sie. Ein
rechter Moderator verliest in seiner Morgensendung seine Hetzmeldungen über
Dissidenten regelmäßig unterlegt mit dem Militärmarsch der osmanischen
Truppen.
Sie beklagten, dass „solche Verräter lebend gefangen und dann noch im
Gefängnis durchgefüttert werden, wo das Land doch in wirtschaftlichen
Schwierigkeiten steckt“. „Warum werden sie nicht an ot und Stelle
abgeknallt“, konnte man unter den Meldungen in den Kommentaren lesen. Die
Sache wurde zur großen Operation aufgebauscht – tatsächlich aber hatten
drei Zivilpolizisten Onkel Nuri im Dorf aus dem Haus geholt.
Es passt sehr gut zu der Arbeitsweise der regierungsfreundlichen türkischen
Presse, „Informationen“ der Regierungsseite ungeprüft zu übernehmen. Für
die Verifizierung einer Meldung werden weder unterschiedliche Quellen
herangezogen, noch wird ein Blick in die staatsanwaltliche Anklageschrift
geworfen. Allerdings hätte es sogar einem Praktikanten auffallen müssen,
dass sich von einem „gefährlichen“ Terroristen, der trotz wirtschaftlicher
Probleme ein Kopfgeld von 300.000 Lira wert ist, nirgends ein Foto fand.
Weder in der regierungsnahen Presse, noch bei der Anadolu-Agentur. Niemand
fragte danach, wer dieser Nurettin Canan eigentlich ist.
## Ein Terrorist mit staatlicher Altersrente
Nurettins Sohn Civan Canan bemühte sich, dem auf Twitter abzuhelfen. Er
postete Fotos von seinem Vater im Kreis der Enkelkinder, mit den Töchtern,
bei der Arbeit im Dorf. Er schrieb:
„Nurettin Canan, der angeblich auf der grauen Liste steht, ist mein Vater
und kein Terrorist. Er ist 70. Wir sind Bauern. Am 19. Januar wurde er
festgenommen und gleich wieder freigelassen. Die Anschuldigungen sind
haltlos und erstunken und erlogen!“
Tatsächlich war Nurettin Canan am 19. Januar 2018 in Gewahrsam genommen
worden. Die Polizei nahm seine Aussage auf und ließ ihn noch am selben Tag
wieder laufen. Obendrein bezieht er nach wie vor Altersrente vom Staat.
Im Dorf wird Onkel Nuri oft wegen seiner Naivität verspottet. Sollte es ihm
gelungen sein, wie Walter White aus der TV-Serie Breaking Bad unbemerkt ein
Doppelleben zu führen, nämlich eine führende Rolle in der PKK zu spielen,
während er Tag und Nacht sein kleines Stück Land beackert, wäre das per se
eine filmreife Leistung.
In der Anklageschrift finden sich allerdings ein paar Punkte, die nicht
recht zum Szenario von Regierung, Medien und Trollen passen, die in der
Türkei ja seit langem die Unschuldsvermutung aus der Rechtsprechung getilgt
haben.
Laut Anklageschrift sagte der vor acht Jahren, am 18. Juni 2010 gefasste
PKK-Aktivist Ibrahim Toprak aus, Nurettin Canan habe ihm 2009, als er bei
ihm zu Hause war, zu essen und zu trinken gegeben und ihm erlaubt, einmalig
bei ihm im Garten zu übernachten. In der Anhörung vor der
Staatsanwaltschaft wies Canan die Vorwürfe zurück, tatsächlich sei Toprak
mit Waffengewalt in sein Haus eingedrungen.
Ein Kronzeuge, der sich 2009 den Sicherheitsbehörden stellte, (seit den
Neunzigern werden Kronzeugen in der Region als „Verleumder“ bezeichnet)
habe ebenfalls ausgesagt, Canan hätte ihnen geholfen. In der Anklageschrift
steht weiter, in Canans Haus seien ein Patronengürtel, ein Fernglas mit
Etui, vier Magazinholster und eine Handgranate gefunden worden. Canan
erklärte in seiner Aussage, die Handgranate gehöre ihm nicht, sie sei
möglicherweise von Toprak, der sich gewaltsam Zutritt zu seinem Haus
verschafft hatte, dort hinterlassen worden.
Andere konkrete Beweise sind nicht aufgeführt. Die vorliegenden Beweise
aber wurden selbst in den hitzigen Neunzigern nicht als Beleg für
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gewertet, sondern
maximal für „Beihilfe und Unterstützung für eine Terrororganisation“.
Wie kam es dann, dass der alte Nurettin als „gefährlicher Terrorist“ auf
der grauen Liste der Verdächtigen landete und 300.000 Lira für seine
Ergreifung ausgesetzt wurden? Hat die Regierung einfach niemand anderen
gefunden, um ihrer nationalistisch-militaristisch ausgerichteten Basis
„kleine Siege“ zu liefern und zu zeigen, dass sie fest im Sattel sitzt?
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
12 Sep 2018
## AUTOREN
Irfan Aktan
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