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# taz.de -- Den Wolf küssen
> Francisco Cantú kennt die amerikanisch-mexikanische Grenze als
> Grenzwächter und als Aktivist. Seine Reportage über das, was er dort
> erlebt hat, ist preisgekrönt
Bild: Die Grenz-Patrouille
Von Lennart Laberenz
Schlägt man ein Buch mit der Unterzeile „Leben an der mexikanischen Grenze“
auf, kann man darin Tiere erwarten. Sogar Antilopen, Weißrüssel-Nasenbären,
rote Vögel, einen schwarzen Schmetterling. Nicht überraschend: Landschaft,
geologische Formationen, Felsen, Wüste, Sonne. Oder auch den Onkel des
Autors, der sich grämt, in unberührte Gegenden Straßen gebaut, in die Natur
eingegriffen zu haben. Einmal fällte und zerhäckselte er eine mächtige
Kiefer, das hängt ihm nach. Und es kommt Gewalt vor. So viel, so drastische
Gewalt sogar, dass der Autor Francisco Cantú nah dran ist, seinem Onkel zu
erzählen, dass ihn diese Gewalt so sehr beschäftige, „dass ich kaum noch
Augen für die Schönheit der Natur hatte. Ich wollte ihm sagen, dass er in
dieser Grenzregion vermutlich keinen Frieden finden würde.“
Francisco Cantú, kommt aus einer mexikanisch-amerikanischen Familie, ist
auf der US-amerikanischen Seite aufgewachsen, träumt viel. Einmal sogar vom
Zungenkuss eines Wolfs, weshalb er bald auch C. G. Jung exzerpiert. Nicht
als Rassentheoretiker, sondern weil der über Träume schrieb. Überhaupt
streut Cantú ein paar Zusammenfassungen von Essays oder wissenschaftlichen
Werken ein. Es geht um Gewalt und Grenzen.
Bald steht der Autor vor dem Grab seines Großvaters, kann von hier auf
Berge und über eine Landesgrenze schauen – Grenzen sind artifiziell und
Ergebnis von Kriegen, Launen oder Geld. Das ist hübsch illustriert, aber
keine nagelneue Erkenntnis. Und so geht es weiter, vieles mischt sich hier
zu einer sehr amerikanischen Erzählung: Interessierte Naivität als
Ausgangshaltung, viel dreht sich um Wurzeln, also irgendwie geartete
Ursprünge, die gern auf einen Essentialismus hinweisen – als würden
Familiengenealogien mehr zum Charakter beitragen als soziale, kulturelle
oder politische Umstände.
## Das grüne Biest
Vor allem aber wenn Cantú seinen Dienst in den Grenztruppen beschreibt, ist
„No Man’s Land“ überraschend leichtgewichtig. Denn der Autor war jahrela…
Angehöriger der Grenztruppen. Und da laufen der parlierende Ton,
literarische Versuche, einzelne Gedanken, Episoden und seine sicher
ehrenwerte Motivation, mehr über die Grenze verstehen zu wollen, in die
Falle seiner eigenen Naivität: Die Customs and Border Protection (CBP) ist
keineswegs ein fürsorgender Verein, der Einwanderer aus der Wüste klaubt,
sondern mit über 60.000 Angestellten die größte Vollzugsbehörde der USA,
jährliches Budget 16,4 Milliarden US-Dollar, mit mehr Fluggeräte als die
brasilianische Armee und vielen Sonderrechten ausgestattet.
Länger schon gilt die CBP als derart unkontrolliert, dass sie in Washington
auch das „grüne Biest“ genannt wird: Anwälte in der Grenzregion sammeln
Hunderte Menschenrechtsverstöße. Es gibt Dutzende Verfahren wegen
Drogenschmuggels, Bereicherung, Gewalt, sexueller Übergriffe bis zu
Vergewaltigung und Mord. Im Frühjahr dokumentierte die Bürgerrechts-Union
Aclu massive Übergriffe gegen Frauen und Jugendliche. Vieles wird
vertuscht, Verfahren verschleppt. Wenn man mit Anwälten an der Grenze über
die Dunkelziffer spricht, rollen manche mit weit aufgerissenen Augen.
Francisco Cantú aber sieht vor allem zwei Gruppen – gewalttätige
Drogenschmuggler und Illegale. Letztere greifen sie auf und schicken sie
zurück. Die Grausamkeit der Drogenmafia kennt er von Bildern, sie lässt ihn
kaum schlafen, schlecht träumen. Erst ganz am Ende, in einer Episode, die
Cantú zwischen Traum und Wirklichkeit balancieren lässt, löst sich diese
Dichotomie, als er einen Reiter am Rand des Big-Bend-Nationalparks nach den
Lebensumständen in der Gegend fragt. In Boquillas sei es sicher, antwortet
der und illustriert beiläufig die Hierarchie der Schwierigkeiten: „Die
Narcos behelligen uns nicht, selbst die Ranger und Grenzer lassen uns in
Ruhe.“
Bis es aber zu diesem „selbst“ kommt, hat Cantú einen weiten Weg gemacht
und dabei José kennengelernt: Mexikaner ohne Papiere, seit dreißig Jahren
im Land, Familienvater, treusorgender Ehemann, Modellangestellter. Cantú
ist da bereits aus dem Dienst ausgeschieden, studiert und arbeitet in einer
Kaffeehauskette. José zeigt ihm die Ungerechtigkeiten aus anderer
Perspektive: Der hatte seine sterbende Mutter besuchen wollen, kam beim
illegalen Überqueren in die Mühlen von CBP und Justiz.
Bevor José eine Blut-Schweiß-Tränen und Familie-ist-das-Wichtigste-Rede als
Schlussepisode halten darf, hat Cantú offensichtlich gelernt, dass er Teil
einer „zerstörerischen Maschinerie“ war. Lesen können wir darüber wenig.
22 Sep 2018
## AUTOREN
Lennart Laberenz
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