# taz.de -- Naseputzen in Oberschöneweide | |
> Kristian Matsson alias The Tallest Man on Earth spielt ein ergreifendes | |
> Konzert im alten DDR-Funkhaus in Berlin – er klingt fast wie der frühe | |
> Dylan | |
Von Johanna Roth | |
Ein Samstagabend im Berliner Frühherbst. Am Spreeufer schwappt leise das | |
Wasser, es ist dunkel, Laternen weisen den Pärchen den Weg, die Arm in Arm | |
zum hell erleuchteten Konzertsaal schreiten. Es wirkt fast, als gingen sie | |
gemeinsam zum Ballabend; nur dass die Gäste keine Abendroben tragen. | |
Mädchen mit Blümchenkleidern, Lederjacken und vielen Ringen an den Fingern, | |
Jungs in Karohemden und Wollmützen: Sie alle sind rausgefahren nach | |
Oberschöneweide, ins ehemalige Funkhaus der DDR, um den Mann zu hören, den | |
die New York Times mal ziemlich treffend als „erdigen Bob Dylan“ | |
bezeichnete. | |
„The Tallest Man on Earth“ nennt sich selbstironisch der 1983 in Schweden | |
geborene Kristian Matsson, der in Wirklichkeit nicht sehr hochgewachsen | |
ist. Vor drei Jahren hat er sein viertes Album veröffentlicht, „Dark Bird | |
Is Home“, das erste in seiner gut zehnjährigen Laufbahn, auf dem ihn eine | |
Band begleitet. Sein aktuelles Projekt „When the Bird Sees the Solid | |
Ground“, eine Art monatliche Videokolumne mit jeweils einem neuen Song, ist | |
eine Rückkehr zu seinen Folkrock-Anfängen: ein Mann, eine Gitarre – und | |
Texte, die dem inneren Auge eine ganze Welt an die Wand werfen. | |
Matsson eröffnet mit einem Song aus 2012, „To Just Grow Away“, einer, der | |
dem ganz eigenen The-Tallest-Man-on-Earth-Sound folgt: perlend leichtes | |
Fingerpicking, aber so dicht und intensiv, dass nicht nur er selbst | |
instinktiv auf den Boden stampft. Das Publikum bleibt gebannt und gerührt, | |
nur ganz selten wird mal ein Handy gezückt. Dabei ist dieser Abend eine | |
Show: Matsson steht nur dann am Mikro, wenn er es wirklich zum Singen | |
braucht. In allen anderen Momenten wippt er in einer ihm ganz eigenen Art | |
auf den Zehenspitzen, er springt auf einen Hocker in der Mitte der Bühne, | |
schleicht wie ein Tiger im Kreis, als befürchte er, es würde nicht reichen, | |
einfach nur Gitarre zu spielen und zu singen. | |
Sein Set wechselt zwischen neuen und alten Songs. Erst ein wilder | |
Gitarrenritt wie „King of Spain“ dann eine melancholische Neuheit wie „All | |
I Can Keep Is Now“. Im Laufe des Abends wechselt er immer wieder zwischen | |
E- und Akustikgitarre, für zwei Songs kommt auch ein Banjo zum Einsatz, und | |
als er sich für „Little Nowhere Towns“ vom jüngsten Album ans E-Piano | |
setzt, klingt es wie seine Gitarre, wie mehrere Gitarren, ach was: wie ein | |
ganzes Orchester. Sein Spiel ist sozusagen Lead- und Rhythmusgitarre in | |
einem, es begleitet nicht nur, es ist seine zweite Stimme für die Songs, in | |
denen er nicht nur singt, sondern Geschichten erzählt. Das wunderschöne | |
„Thrown Right at Me“ kündigt er als das einzige glückliche Liebeslied im | |
Repertoire an, der Vogel zieht sich dabei gemeinsam mit dem Motiv der | |
enttäuschten Liebe durch fast alle seine Werke. | |
Enttäuscht oder gar enttäuschend aber klingt das zu keinem Zeitpunkt, | |
sondern harmonisch, spielerisch, fast fröhlich. Die Dylan-Analogie wirkt | |
berechtigt, auf seinen ersten beiden Alben sang Matsson ähnlich kratzig, | |
aber auch gequetscht. Das hat er inzwischen abgelegt und klingt jetzt mehr | |
wie der frühe Dylan, wie ein großer Singer-Songwriter. | |
Der große Saal des Funkhauses in der Nalepastraße ist die perfekte Bühne | |
für das Szenario „Kleiner Mann ganz groß“, nicht zuletzt, weil die | |
Leuchtsäulen um Matsson herum eine Art faszinierendes Schattentheater | |
erzeugen; es ist eine kleine Manege inmitten des auf Stufen sitzenden | |
Publikums. Als bei „I’m a Stranger Now“ aus dem Publikum eine Art | |
Backing-Vocal-Chor entsteht, der nach jeder Zeile leise „We Are Strangers | |
Now“ singt, hat das, wie der Ort auch, etwas Sakrales. Gegen Ende gibt es | |
noch eine kurze Albernheit („The Winner Takes it All“), gefolgt von einem | |
allerletzten Herzstolpern am Piano: „And no / We will never be a part / Of | |
the pictures once taken“, singt Matsson, dann ist Schluss. Auf dem Weg nach | |
draußen putzen sich auffällig viele Menschen die Nase. | |
24 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Johanna Roth | |
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